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Donnerstag, 4. Dezember 2014

Der Platz in der Mitte: Folgen des "Asylkompromisses" für die politische Strategie der Grünen

Der von Winfried Kretschmann unterstützte "Asylkompromiss" ist eine Zäsur der grünen Asylpolitik. Während die Bundespartei auf ihrem "Freiheitskongress" über das Verhältnis von Staat und Einwohner*innen und das grüne Freiheitsverständnis diskutierte, schränkte der Baden-Würtembergische Ministerpräsident die Freiheit vieler Menschen entscheidend ein. Allen Positionen der Bundesebene widersprechend beschloss ein grüner Ministerpräsident die Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl. Besonders fatal ist, dass er damit einer antiziganistischen Kampagne der bürgerlichen Parteien gegen "Armutszuwanderung" ihren größten Erfolg bescherte.

Ich halte es für völlig unangebracht, Leib und Leben unterdrückter Menschen gegen partei- und machtpolitische Kalkulationen auszuspielen. Trotzdem möchte ich euch den folgenden Essay, der im Rahmen meines politikwissenschaftlichen Studiums entstanden ist, nicht vorenthalten. Er beschreibt den Kompromiss inhaltlich und analysiert die parteipolitischen Konsequenzen des Vorfalls. Dabei komme ich zum Ergebnis, das die Oppositionsfähigkeit der Grünen im Bundesrat durch die Entscheidung deutlich eingeschränkt wird. Da ich in diesem Text natürlich so neutral wie möglich vorgehen wollte, möchte ich vorher noch deutlich herausstellen, dass der Beschluss in jedem Fall negativ zu bewerten ist und parteipolitische Überlegungen in solchen Fragen keine Rolle spielen sollten.

Viel Spaß beim Lesen und kommentieren!


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Die als „Asylkompromiss“ bezeichneten Entscheidungen des Bundesrats am 19. September 2014 haben zu einer kontroversen Debatte innerhalb der Partei Bündnis 90/Die Grünen (im Folgenden „Grüne“ oder „Die Grünen“) geführt. Der Grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte dem Kompromissvorschlag der Bundesregierung zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes zugestimmt und dem zustimmungspflichtigen Gesetz damit die erforderliche Mehrheit im Bundesrat verschafft. In der darauf folgenden öffentlich geführten innerparteilichen Debatte wurde Kretschmann für diese Entscheidung scharf kritisiert. So wird zum Beispiel der grüne Innenpolitiker Volker Beck mit den Worten zitiert: „Heute wurde das Menschenrecht auf Asyl für einen Appel und ein Ei verdealt“ [1]. Diese, auch von vielen anderen grünen Spitzenkräften geäußerte, Kritik zielt darauf ab, dass die Zugeständnisse der Bundesregierung zu gering seien, um eine Zustimmung seitens der Baden-Würtembergischen Landesregierung zu rechtfertigen.

Der folgende Essay ergründet, was der „Asylkompromiss“ für die zukünftige strategische Ausrichtung der Grünen bedeutet. Dazu werde ich zunächst einen Überblick über die relevanten Positionen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung geben und diese mit dem tatsächlich beschlossenen Kompromiss vergleichen, um ein Verständnis für den Inhalt der getroffenen Entscheidung zu schaffen. Im Anschluss untersuche ich verschiedene mögliche strategische Implikationen für die Grünen auf ihre Plausibilität. Diese Analyse ist angesichts der räumlichen Beschränkung des Essays nicht erschöpfend möglich. Dennoch können die von mir gewonnenen Erkenntnisse einen Beitrag zur wissenschaftlichen Betrachtung des Falls und seiner innerparteilichen strategischen Aufarbeitung liefern.

Inhalt des Gesetzespakets

Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD für die aktuelle Bundestagswahlperiode enthält einige Passagen zu Fragen des Asylrechts. Im Folgenden beschreibe ich die für den „Asylkompromiss“ relevanten Positionen im Koalitionsvertrag und stelle sie den Inhalten des Kompromisses vergleichend gegenüber.

Eine Kernfrage der Debatte um den „Asylkompromiss“ ist die Klassifizierung der Staaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien als „sichere Herkunftsstaaten“. Die Bezeichnung hat zur Folge, dass Asylanträge von Menschen aus den genannten Staaten leichter als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden können [2]. Das vom Bundesrat gebilligte Gesetz [3] enthält diese Forderung aus dem Koalitionsvertrag [4].

Des Weiteren beinhaltete der „Asylkompromiss“ eine bereits im Koalitionsvertrag ([4], S.77) geforderte Reduktion des Arbeitsverbots für Asylsuchende auf drei Monate [3]. Da der „Inländervorrang“, welcher für die ersten fünfzehn Monate des Aufenthalts eine Vorrangprüfung verlangt und somit für die Arbeitserlaubnis der Asylsuchenden ein Fehlen geeigneter Deutscher Bewerber*innen voraussetzt, weiterhin besteht, ist die Wirkung der Regelung stark vom Einzelfall abhängig.

Veränderungen zwischen Koalitionsvertrag und „Asylkompromiss“ bestehen an zwei Punkten. Die im Koalitionsvertrag ([4], S.77) festgeschriebene Lockerung der Residenzpflicht wird erweitert. So werden Asylsuchende sich in Zukunft nicht nur, wie im Koalitionsvertrag gefordert, in ihrem Bundesland, sondern im gesamten Bundesgebiet frei bewegen können [5]. Weiterhin konnte eine Entlastung der Kommunen über die „Kommunalträger-Abrechnungsverwaltungsvorschrift“ verhandelt werden. Beamt*innen, die an Verwaltungstätigkeiten für die Grundsicherung für Arbeitssuchende beteiligt sind, werden nun zu 35% vom Bund finanziert. Vorher betrug die Kofinanzierung 30%. Die Veränderung war im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen und kann, ähnlich wie die Lockerung der Residenzpflicht, als Zugeständnis der Bundesregierung gewertet werden.

Die Bewertung der erreichten Zugeständnisse ist inhärent politisch und übersteigt die Zielsetzung dieses Essays. Um die Bewertung für politische Entscheidungsträger*innen zu vereinfachen, möchte ich dennoch an dieser Stelle zu bedenken geben, dass Entlastungen der kommunalen Finanzen im Zuge der Neuverhandlungen der föderalen Finanzbeziehungen wahrscheinlich sind und die tatsächliche Wirkung der erhöhten Kofinanzierung vor diesem Hintergrund einer kritischen Betrachtung bedarf.

Strategische Implikationen

Der „Asylkompromiss“ hat das Potenzial, eine Neuausrichtung der grünen Strategie zu begründen. Diese Implikationen untersuche ich im Folgenden kurz vor dem Hintergrund der Koalitionsfähigkeit sowie der Oppositionsfähigkeit auf Bundesebene.

Parteienforscher*innen wie Marc Debus stellen in ihren Analysen der Koalitionsbildung fest, dass Koalitionen zwischen ideologisch ähnlichen Parteien eine höhere Entstehungschance aufweisen [6]. Vor diesem Hintergrund kann die Entscheidung Kretschmanns als Vorbereitung einer Schwarz-Grünen Koaltion auf Länderebene interpretiert werden. Dies hat auch für die zukünftigen Koalitionsoptionen auf Bundesebene Bedeutung. Während die Befürworter von Schwarz-Grün innerparteilich gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen sollten, wächst die ideologische Distanz zwischen Grünen und der Linkspartei, die dem Kompromiss durchweg ablehnend gegenüberstand, weiter an. Ob der Asylkompromiss die Chance einer Grünen Regierungsbeteiligung im Ergebnis erhöht hat, oder der grüne Richtungskampf zu einer akuten Regierungsunfähigkeit der Partei führt, kann hier nicht beantwortet werden und verlangt weitere Forschungsarbeit.


Für die weitere Handlungsfähigkeit der Grünen als Oppositionspartei auf Bundesebene wurde mit dem Asylkompromiss eine Hürde geschaffen. Da es den Grünen nicht gelungen ist, eine Bundesratsmehrheit gegen das auf Bundesebene abgelehnte Kompromisspaket zu organisieren, werden sie auch in Zukünftigen Gesetzgebungsprozessen keine glaubhafte Drohung eines Bundesratsvetos aussprechen können. Die Bundesratsmehrheit hat sich von einer Oppositionsmehrheit zu einer unsicheren Mehrheit entwickelt. Der aus Oppositionssicht positive Effekt, dass Bundesregierungen politische Konfrontationen mit klaren Oppositionsmehrheiten im Bundesrat vermeiden und sich stattdessen auf konsensuale Gesetze beschränken [7], besteht nun nicht mehr. Somit hat der „Asylkompromiss“ negative Folgen für die Oppositionsfähigkeit der Grünen auf Bundesebene.


[1] vgl. Gathmann, Florian: „Grüner Streit über Asylkompromiss: Kretschmann, der Sündenbock“, Spiegel Online, 19.09.2014, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/asylkompromiss-koalition-gerettet-gruene-in-not-a-992643.html , aufgerufen am 04.12.2014
[2] vgl. http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/asylrecht/281460 , aufgerufen am 04.12.2014
[3] vgl. Bundestagsdrucksache 18/1528, S.7
[4] vgl. „Deutschlands Zukunft gestalten“ – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S.76
[5] vgl. Preuß, Roland: „So sieht der Asylkompromiss aus“, Süddeutsche Zeitung Online, 19.09.2014, http://www.sueddeutsche.de/politik/herkunftsstaaten-und-residenzpflicht-so-sieht-der-asylkompromiss-aus-1.2137533 , aufgerufen am 04.12.2014
[6] vgl. Debus, Marc: „Party Competition and Government Formation in Multilevel Settings: Evidence from Germany“ in Government and Opposition, Band 43, Ausgabe 4, 2008, S.534
[7] vgl. Manow, Philip; Burkhart, Simone: “Legislative self-restraint under divided Government in Germany, 1976-2002” in Legislative Studies Quarterly, Band 32, Ausgabe 2, 2007,  S.183

Dienstag, 30. September 2014

Erbschaftsteuer: Perspektiven für eine progressive Reform

Die Erbschaftsteuer ist ein wenig beachtetes politisches Steuerungsinstrument. Ihre Bedeutung für das Gesamtsteueraufkommen in Deutschland ist mit ca. 4-5 Milliarden € jährlich gering. Trotz dieser niedrigen Belastungen von Erben in Deutschland wird jeder Forderung um eine Erhöhung der Erbschaftsteuer oder eine Verbreiterung ihrer Bemessungsgrundlage sehr emotional begegnet. Das ist nicht unverständlich, stellt der Tot eines geliebten Menschen schon ohne Erbschaftssteuer eine große psychische Belastung da. Der Gedanke, die Erinnerung an die Verstorbenen (etwa in Form eines Familieneigenheims oder traditioneller Schmuckstücke) versteuern zu müssen und dadurch vielleicht zu verlieren, ist für viele bereits in der Zeit vor dem Ernstfall nicht zu ertragen. Auch wenn diese Angst in Anbetracht der diskutierten Freibeträge jeder sachlichen Grundlage entbehrt, muss sie in der Debatte ernst genommen werden. Ich hoffe, mit diesem Beitrag die Diskussion in der Öffentlichkeit und Parteiintern ein Stück in eine sachlichere Richtung zu lenken.

Wieso Erbschaftssteuern?

Wieso halte ich die Erbschaftssteuer (genauer „Erbschaft- und Schenkungssteuer“) trotz ihrer geringen fiskalischen Effekte für einen wichtigen Aspekt von Steuergerechtigkeit? Die Antwort ist simpel: weil sie die einzige Steuer ist, die sowohl mit linken als auch liberalen Argumenten begründet werden kann und damit ein großes Akzeptanzpotenzial bietet. Aus linker Sicht ist die Umverteilung von Vermögen ein wichtiger Beitrag zu Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Diese Feststellung ist trivial und muss hier nicht weiter ausgeführt werden [1].
Realpolitisch interessanter ist die liberale Argumentationsmöglichkeit für die Steuer. Denn wer ernsthaft behauptet, ihm*ihr liege die „Leistungsgerechtigkeit“ (im liberalen Duktus natürlich rein auf Erwerbsarbeitsleistung fixiert) am Herzen, wird Erbschaften und Schenkungen als leistungsloses Einkommen ablehnen. Sie haben nichts mit der liberalen kapitalistischen Ordnung zu tun, sondern sind ein Überbleibsel aus der feudalen Gesellschaft, in der Reichtum noch stärker als heute durch Herkunft bestimmt war. Auch heute gilt für die Erbschaft: wer hat, dem*der wird gegeben. So konstatiert das deutsche Institut für Altersvorsorge in der 2011 erschienenen Studie „Erben in Deutschland“, dass „die Höhe der Erbschaft mit dem Einkommen [steigt].“ [2]. Neben der marktliberalen „Leistungsgerechtigkeit“ kann also auch die linksliberale „Chancengerechtigkeit“ nicht für die Legitimation von Erbschaften dienen. Was liegt näher, als die ohnehin notwendige Finanzierung des Staates in stärkerem Maße durch eine Steuer auf Erbschaften und Schenkungen sicherzustellen?

Warum ist das Thema aktuell?

Die Erbschaftssteuerdiskussion kocht momentan durch mehrere Ereignisse erneut hoch. Das relevanteste davon ist sicherlich das erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches die enormen Vergünstigungen von 85 bzw. 100% auf Betriebsvermögen für verfassungswidrig erklären dürfte. Außerdem hat die Grüne Bundestagsfraktion jüngst eine Studie über mögliche Umgestaltungen der Erbschaftssteuer erstellen lassen, um die im Bundestagswahlkampf geforderte Verdopplung des Erbschaftssteueraufkommens mit einem handfesten Konzept zu hinterlegen. Da ich die DIW-Studie in diesem Post häufig zitiere, beziehen sich alle im Text folgenden Seitenangaben auf sie.
Das Ergebnis der Studie hat Kathrin-Göring Eckhardt – zur Überraschung vieler Grüner Finanzpolitiker*innen – dazu veranlasst, die geforderte Erhöhung in einem Interview mit dem Handelsblatt als unmachbar zu stilisieren. Ich gehe in diesem Post nicht auf die berechtigte Kritik an der unterschätzten Steuerbasis der DIW-Studie ein (siehe zum Beispiel http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=22310 ). Stattdessen argumentiere ich, dass auch auf Grundlage der DIW-Daten ein zufriedenstellendes und realpolitisch durchsetzbares Erbschaftsteuerkonzept entwickelt werden kann. Dazu stelle ich zunächst theoretische Überlegungen zu wünschenswerten Erbschaftsteuerkonzepten auf, betrachte relevante Gütekriterien und wende sie im Anschluss exemplarisch auf Beispielkonzepte aus der DIW-Studie an.

Bausteine eines Erbschaftssteuerkonzepts

Freibeträge

Die Wahl der Freibeträge ist für das Erbschaftsteuerkonzept entscheidend. Dabei lassen sich die Verwandtschaftsabhängigkeit, die Höhe der persönlichen Freibeträge und der Unternehmensfreibeträge unabhängig voneinander bewerten und abwägen.
Im heutigen Erbschaftsteuerrecht werden Freibeträge abhängig vom Verwandtschaftsverhältnis zwischen Erb*innen und Erblasser*innen in unterschiedlicher Höhe gewährt. Diese Regelung ist aus mehreren Gründen problematisch. Auf der normativen Ebene widerspricht die einseitige Bevorzugung von engen Verwandten dem liberalen Staat. Die Entscheidung, wer welchen Teil eines Vermögens erbt, sollte von den Erblasser*innen selbst bestimmt und nicht durch das Steuersystem beeinflusst werden (zwar ist eine Steuerung politisch gewünschter Ereignisse durch Steuern durchaus sinnvoll. Im konkreten Fall ist dies jedoch eine nicht verhältnismäßige Privilegierung traditioneller Familienstrukturen. Ein Pflichtanteil am Erbe für nahe Angehörige reicht völlig aus, um ihre Existenz dauerhaft zu sichern). Auch aus ökonomischer Sicht ist die Anreizwirkung der Statusabhängigen Freibeträge zu kritisieren. Unternehmer*innen könnten bei ihrer Nachfolgeentscheidung ihre engen Verwandten bevorzugen, um von den Freibeträgen zu profitieren. Ob diese jedoch die richtigen für die daraus entstehende Verantwortung sind, muss bezweifelt werden [3]. Das Problem der Fehlallokation ist ein generelles Problem der Erbanfallsteuer, die auf mehrere Personen verteilte Erbschaften begünstigt. Leider wurde die aus dem angelsächsischen Raum bekannte Nachlasssteuer, die dieses Problem durch einen auf das Erbe angewandten Freibetrag lösen kann, nicht im DIW-Gutachten untersucht, sodass die später vorgestellten Ansätze diesen vielversprechenden Ansatz außen vor lassen. Realpolitisch könnte eine Entkopplung von Verwandtschaftsgrad und Freibeträgen zu Widerstand führen, da die Steuerstruktur signifikant verändert wird. Da Menschen jedoch in unterschiedlichen Erbfällen in verschiedenen Rollen auftreten, ist dieser Effekt zunächst reine Spekulation und vermutlich begrenzt.
Die Höhe der Freibeträge ist eine schwer abzuwägende Fragestellung bei der Konzeption eines Erbschaftsteuerrechts. Höhere Freibeträge dürften im Allgemeinen die Erhebungskosten der Steuern absolut reduzieren, da weniger Vermögenswerte erhoben und bewertet werden müssen. Ob dieser Effekt durch eine häufigere Bewertung nicht steuerpflichtiger Vermögenswerte zur Reduktion von Unsicherheit wett gemacht wird, kann ich anhand der mir vorliegenden Studien zur Steuer nicht beurteilen. Fest steht, dass höhere Freibeträge sowohl kleine als auch große Erbschaften entlasten, aber auch geringere Einnahmen in Aussicht stellen. Bei Freibeträgen auf Betriebsvermögen muss des Weiteren bedacht werden, dass kleinere Unternehmen in der Regel schwieriger zu veräußern sein sollten als große Unternehmen. Deshalb sollten sie von der Steuer ausgenommen werden. Insgesamt sind sowohl bei den persönlichen Freibeträgen (welche im Übrigen nicht mehr nach 10 Jahren erneuert [4] werden sollten, um Steuervermeidung einzudämmen) als auch bei Freibeträgen auf Betriebsvermögen moderate Freibeträge sinnvoll, um eine angemessene Berücksichtigung der verschiedenen Argumentationslinien zu gewährleisten.

Begrenzung Unternehmenssteuerlast

Viele Vorschläge des DIW-Gutachtens verwenden Höchstgrenzen, bis zu denen Betriebsvermögenssteuersätze ansteigen können. Da die Angst vor Insolvenzen aus Substanzbesteuerung ungeachtet jeglicher empirischer Evidenz [5] die öffentliche Debatte bestimmt, werden diese realpolitisch wohl nicht zu vermeiden sein. Ich plädiere für eine möglichst hohe Grenze, um eine relevante Besteuerung von Betriebsvermögen und eine angemessene Progression zu ermöglichen. Ebenfalls bedenkenswert wären Varianten, in denen ein Teil der Steuerschuld dadurch vermindert wird, dass entsprechende Anteile am Unternehmen an die Mitarbeiter*innen abgegeben werden. So können Liquiditätsprobleme vermieden werden und nebenbei wird das gesamtgesellschaftliche Produktivvermögen wirksam umverteilt und unter Umständen demokratisiert. Inwiefern derartige Übergaben über Zwangskapitalisierungen oder Anteilsverkäufe abgewickelt werden und welche demokratischen Rechte der Belegschaft daraus erwachsen (hier wären sowohl genossenschaftliche als auch am Kapital bemessene Organisationsmodelle denkbar), muss noch eingehender diskutiert werden und würde den Umfang dieses Posts sprengen.

Steuersätze

Steuersätze können nur komplementär zu Freibeträgen diskutiert werden. Schließlich benötigen hohe Freibeträge auch hohe Steuersätze, wenn das Einnahmeziel erreicht werden soll. Analog ermöglicht eine breite Bemessungsgrundlage niedrigere Steuersätze. Die von mir aus Umverteilungsgründen als wünschenswert erachtete Progression lässt sich ebenfalls entweder de facto durch hohe Freibeträge oder direkt durch progressive Steuersätze sicherstellen. Hier wird politisch zu bewerten sein, inwiefern ein einfacher, flacher Steuersatz die entgangene Progressionswirkung und damit die höhere Belastung niedriger Erbschaften aufwiegt. Da diese Frage vor allem eine der politischen Strategie ist und mir keine Studien zur subjektiven Bewertung von einfachen im Vergleich zu komplexen Steuersystemen vorliegen, werde ich ihr hier keine weitere Beachtung schenken.

Kriterien für ein gutes Erbschaftssteuerkonzept

Im Folgenden beschreibe ich kurz, welche Kriterien auf die einzelnen Vorschläge des DIW angewandt werden können, um diese zu beschreiben und zu bewerten. Alle Kriterien lassen sich aus der DIW-Studie direkt ablesen. Auf wenig quantifizierbare Kriterien wie „Einfachheit“ werde ich in meiner Analyse verzichten, obgleich sie für die endgültige Entscheidung zugunsten eines Konzepts wichtig werden können.

Erwartete Einnahmen

Bei einer Steuer sind die erwarteten Einnahmen entscheidend. Steuerkonzepte mit hohen Einnahmen bieten nicht nur stärkere finanzielle Entlastungen für den Staat, sondern werten auch die Steuerungswirkung der von mir als wichtig erachteten Erbschaftssteuer aus. Da wir Grünen zur Bundestagswahl die Forderung der Aufkommensverdopplung propagiert haben, werde ich in meine exemplarischen Betrachtungen nur Konzepte einbeziehen, welche dieses Ziel erreichen. Grundsätzlich gilt: je höher die erwarteten Einnahmen, desto besser.

Anzahl Steuerpflichtige

Das DIW weist in seiner Studie auch die Anzahl der erwarteten Steuerpflichtigen je Konzept aus. Als Kennzahl ist sie jedoch zweischneidig. Auf der einen Seite bedeutet eine niedrige Anzahl an Steuerpflichtigen meistens, dass sich die Steuererhebung auf große Erbschaften beschränkt. Dann kann durch geringeren Verwaltungsaufwand ein großer Umverteilungseffekt erreicht werden. Des Weiteren sind weniger Menschen dazu geneigt, gegen die geplante Erbschaftssteuererhöhung vorzugehen, wenn sie nicht selbst betroffen sind. Auf der anderen Seite müssen die Besteuerten in einem System mit wenigen Steuerpflichtigen pro Kopf mehr bezahlen und haben einen zusätzlichen Grund für Widerstand. Da Personen, die große Erbschaften erwarten, meist ohnehin größere ökonomische Ressourcen haben, wirkt ihre Stimme durch Multiplikatoreffekte ungleich höher als die von Normalsteuerzahler*innen. Wie groß das Mobilisierungspotenzial der besteuerten Minderheit ist, kann jedoch nicht seriös abgeschätzt werden. Alles in Allem denke ich, dass die Anzahl der Steuerpflichtigen auf jeden Fall nicht deutlich erhöht werden sollte. Dies würde lediglich dem Argument „die Grünen wollen dem Mittelstand schaden“ Vorschub leisten und somit für die Reform kontraproduktiv sein.

Änderung der Zahlungsstruktur

Hierunter zähle ich nicht nur Veränderungen bezüglich der unterschiedlichen Besteuerung verschiedener Verwandtschaftsgrade, sondern auch eine Verschiebung der Einnahmen hin zu einer höheren Belastung der Betriebsvermögen. Erstere sollten von uns klar vorangebracht werden, um den oben beschriebenen Ungerechtigkeiten in diesem Bereich zu beseitigen. Allerdings sollte dabei beachtet werden, dass starke Verschiebungen starke Widerstände hervorrufen können und somit moderaten Veränderungen der Vorzug eingeräumt werden sollte. Zweitere sind in jedem Fall positiv zu bewerten, da Betriebsvermögen momentan viel zu gering besteuert sind. Dabei müssen wir darauf achten, insbesondere kleine Unternehmen nicht zu stark zu besteuern, sondern die Last durch große, leicht veräußerbare Unternehmen erbringen zu lassen. Eine Progression ist wünschenswert.

Erhebungskosten

Wie bei der Höhe der erwarteten Einnahmen erschließt sich bei den Erhebungskosten sofort, welche Werte als positiv anzusehen sind. Da Bürger*innen verständlicherweise möglichst viele sinnvolle öffentliche Projekte durch ihre Steuern verwirklicht sehen wollen, ist die Minimierung von Verwaltungskosten beim Staat wichtig. Auch die Kosten, welche die Besteuerten selbst tragen müssen, sollten so klein wie möglich gehalten werden. Fast alle vom DIW diskutierten Modelle würden Erhebungskosten reduzieren, weswegen sie ein Fortschritt zum status quo wären. Auch wenn es Unterschiede zwischen den einzelnen Vorschlägen bezüglich ihrer Kosten gibt, sollte dieser Punkt nicht überbewertet werden. Wenn etwa eine komplexe Progression dazu führt, dass die Steuer an sich gerechter wird, kann dies höhere Erhebungskosten durchaus rechtfertigen.

Vorschläge für ein neues Erbschaftsteuerrecht

Nach den theoretischen Vorüberlegungen komme ich nun zur Analyse des aktuellen Systems sowie 5 ausgewählter Modelle aus der DIW-Studie. Ich habe für die Analyse Modelle gewählt, die mir für eine weitere Programmdebatte diskussionswürdig erschienen oder die gute Aspekte enthalten.

Der Status Quo

Die momentane Erbschaftsteuer wird auf den Seiten 9-14 der DIW-Studie kurz beschrieben. Sie schafft nach der Studie ein Aufkommen von 4,1 Mrd.€, wird von 112.000 Steuerzahlenden aufgebracht und kostet ganze 4,5% an Verwaltungskosten in Bezug auf das Aufkommen (alle Daten aus s. 69-70). Strukturell lässt sich feststellen, dass Ehegatten/Lebenspartner*innen und Kinder nur in 4% der Erbanfälle belastet werden, während Erbschaften an Geschwister oder nicht bzw. entfernt Verwandte in mehr als jedem zweiten Fall zahlen müssen. Obwohl das Betriebsvermögen (im weiteren Sinne) 15% der Erbschaftserwerbe ausmacht, macht es nur 1% des Steueraufkommens aus. Auch Grundvermögen sind aufgrund der Regelungen zu selbstgenutzten oder vermieteten Wohnimmobilien (S.12) leicht privilegiert, während sonstige Vermögen überproportional in der Steuerlast berücksichtigt werden. Somit bestätigt die Analyse des Status Quo alle Kritikpunkte, welche häufig an diesen angebracht werden.

Modell 1: Einfaches Mittelmaß

Das erste vom DIW diskutierte Modell (S.71-73) gewährt einen hohen, aber noch moderaten persönlichen Freibetrag von 200.000€, einen moderaten flachen Steuersatz von 30%, keine Freibeträge für Betriebsvermögen, aber eine Begrenzung der Steuerlastquote für Unternehmen auf 15%. Betriebsvermögen werden mit einem Steueranteil von 17% überproportional herangezogen. Aufgrund der fehlenden Freibeträge, der flachen Steuersätze und der niedrigen Belastungsgrenze für Unternehmen besteht nur eine sehr begrenzte Progression. Das Aufkommen wird wie geplant verdoppelt (+96%), während sich die Anzahl der Steuerzahlenden (-48%) und die relativen Erhebungskosten (-68%) im Vergleich zu heute deutlich verringern. Besonders nahe Verwandte (Ehegatten/Lebenspartner*innen, Kinder, Enkel) werden durch das Modell stärker belastet, während entferntere Verwandte entlastet werden.
Modell 1 ist attraktiv, weil es wenige Menschen belastet, günstig in der Erhebung ist, aber trotzdem die gewünschte Einnahmesteigerung bringt. Negativ ist vor allem die fehlende Progression (insbesondere bei Betriebsvermögen).

Modell 4: Niedrige Flat-Tax

Im Modell 4 (S.80-83) wird ein niedriger persönlicher Freibetrag von 100.000€ gewährt, der Steuersatz liegt bei 25% und es gibt sowohl einen abschmelzenden Freibetrag von einer Million € für Betriebsvermögen, als auch eine Begrenzung der Steuerlastquote auf 20%. Das Betriebsvermögen wird somit proportional zum Erwerb (16% d. Steuern) herangezogen. Seine Besteuerung ist progressiver als im Modell 1 ausgestaltet. Das Aufkommen wird verdoppelt (+102%), während die Anzahl der Steuerzahlenden (-5%) ungefähr gleich bleibt und sich die Erhebungskosten (-55%) deutlich reduzieren. Die Verschiebungen bezüglich des Verwandheitsgrades ähneln denen in Modell 1.
Modell 4 ist attraktiv, weil es für Ottonormalerb*innen recht simpel zu verstehen ist und bei den Betriebsvermögen eine bessere Progression als Modell 1 sicherstellt. Negativ anzumerken ist die fehlende Progression bei nicht-Betriebsvermögen.

Modell 8: progressiv und betriebsschonend

Auch Modell 8 (S.92-94) enthält einen persönlichen Freibetrag von 100.000€. Im Gegensatz zum 4. Modell gibt es darin einen abschmelzenden Freibetrag von 2 Millionen € auf Betriebsvermögen und einen progressiven Steuertarif. Betriebsvermögen werden leicht unterproportional (12% d. Steuern) berücksichtigt, aber bis zur Maximalbelastung (15%) progressiv veranlagt. Das Steueraufkommen wird verdoppelt (+107%), während die Anzahl der Steuerzahlenden ungefähr gleich bleibt (-7%) und die Erhebungskosten deutlich sinken (-56%). Die Verschiebungen bezüglich des Verwandtheitsgrades ähneln denen der vorangegangenen Modelle.
Modell 8 ist attraktiv, weil es progressiv gestaltet ist und somit eine größere Umverteilungswirkung entfaltet. Leider wird dieser Vorteil durch eine niedrige maximale Steuerlastquote bei Betriebsvermögen konterkariert.

Modell 12: hohe Flat-Tax

Modell 12 (S.104-106) gewährt einen hohen persönlichen Freibetrag von 200.000€, einen niedrigen, abschmelzenden Freibetrag von 1 Million € für Betriebsvermögen (welches mit 14% d. Steuerlast proportional herangezogen wird) und eine Begrenzung der Steuerlastquote auf 20%. Der Steuersatz von 40% ist im Vergleich zu anderen Modellen hoch, weswegen auch die reduzierte Anzahl an Steuerzahlenden (-52%) eine im Vergleich zu den bisherigen Modellen höhere (+139%) Aufkommenserhöhung stemmen kann. Besonders positiv ist der stark reduzierte Erhebungsaufwand (-74%). Die Verschiebung der Belastung zuungunsten näherer Verwandter ist etwas deutlicher als in den vorigen Modellen.
Modell 12 zieht seine Attraktivität aus der hohen Aufkommenswirkung bei niedrigen Verwaltungskosten. Auch die Reduktion der Steuerpflichtigen ist positiv anzumerken. Negativ ist am Konzept primär, dass ein Steuersatz von 40% in der öffentlichen Debatte für scharfe Gegenkampagnen missbraucht werden kann und dass durch die Freibeträge nur eine begrenzte Progressionswirkung gewährleistet wird.

Modell 20: progressives Abzinsmodell

Modell 20 (S.128-130) bietet geringe persönliche Freibeträge von 100.000€ und einen progressiven Steuersatz. Bei Betriebsvermögen wird kein Freibetrag gewährt. Stattdessen ist im Rahmen eines Abzinsmodells die zinslose Stundung der Zahlungen der Betriebssteuerschuld über 10 Jahre erlaubt. Durch diese Regelung werden Betriebsvermögen stärker progressiv belastet als in anderen Modellen, ohne dass ein Liquiditätsproblem befürchtet werden muss. Das Steueraufkommen ist nominal das höchste der erwähnten Modelle (+168% zum status quo), allerdings kann es sich aufgrund der Stundungsregelung real insbesondere in Zeiten hoher Inflationsraten (die momentan jedoch nicht erwartbar sind) deutlich reduzieren. Die Zahl der Steuerzahlenden bleibt gleich (-1%), die Verwaltungskosten sinken deutlich (-66%). Strukturelle Verschiebungen bezüglich der Verwandtschaftsgrade ähneln denen aus Modell 12.
Modell 20 ist mein persönlicher Favorit. Es bietet eine starke Progression, die auch bei Betriebsvermögen wirkt, ohne dabei Liquiditätsprobleme zu erzeugen. Negativ anzumerken ist lediglich, dass das Abzinsmodell in der öffentlichen Debatte schwer zu erklären sein dürfte und seine Auswirkungen auf Liquiditätspräferenzen noch geklärt werden müssen.

Fazit

Eine Verdopplung des Erbschaftssteueraufkommens ist realpolitisch wie ökonomisch umsetzbar und in Anbetracht der steigenden Vermögensungleichheit in Deutschland dringend geboten. Wir Grüne haben nun verschiedenste Konzepte zur Auswahl, aus denen wir unser endgültiges Konzept erstellen können. Wenn wir dieses einfach, gerecht und progressiv ausgestalten, können wir das Thema politisch gut vorantreiben. Dabei sollte sich unser Vorschlag in Punkto der gerechten Einbeziehung von Betriebsvermögen und der Verwandschaftsunabhängigkeit von denen der politischen Konkurrenz abheben können und der Erbschaftssteuerdebatte neue Facetten hinzufügen.

Endnoten:
[1]: Für eine genauere Behandlung siehe: Richard Wilkinson and Kate Pickett, Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Tolkemitt Verlag, 2009.
[2]: Dr. Reiner Braun, Ulrich Pfeiffer, and Lorenz Thomschke, “Erben in Deutschland: Volumen, Verteilung und Verwendung.” Deutsches Institut für Altersvorsorge, 2011.
[3]: vgl. S. 33-34 in Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums für Finanzen, “Die Begünstigung des Unternehmens­ vermögens in der Erbschaftsteuer.” Bundesministerium für Finanzen, 2012.
[4]: vgl. S. 79 in Jörg Dribeck, Erbschaftsteuer leicht gemacht. Berlin: Ewald von Kleist Verlag, 2009.

[5]: vgl. S. 30 (gleiche Literatur wie [3])

Donnerstag, 6. März 2014

Schluss mit der Israelkritik!

Warum linke Solidarität mit Israel nicht nur möglich, sondern geboten ist.

Um dem sich nach der provokanten Überschrift sicherlich formierenden Shitstorm gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: Dieser Post handelt NICHT von Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Kritik an einzelnen Regierungsentscheidungen belebt den demokratischen Prozess und muss in jedem Fall möglich sein (ich kritisiere zum Beispiel die rassistische Asylpolitik der Regierung Netanjahu [1]). Mir geht es hier stattdessen um eine genauere Betrachtung der sogenannten „Israelkritik“ und eine grundsätzliche Positionierung zur Legitimität eines jüdischen Nationalstaates aus linker Sicht.

Schon der Begriff „Israelkritik“ verdeutlicht einen Anspruch, der über die Kritik an der konkreten Politik der israelischen Regierung hinausgeht. So weißt etwa Yaakov Hadas-Handelsman, israelischer Botschafter in Deutschland, zurecht darauf hin, dass Begriffsäquivalente wie „Chinakritik“ oder „Russlandkritik“ in der deutschen Sprache ungebräuchlich sind [2]. „Israelkritik“ stellt sich im Gegensatz zur konkreten Kritik an Staatshandlungen explizit oder implizit als Kritik am Konstrukt Israel als jüdischen Staat auf. Es lohnt an dieser Stelle also, den zionistischen Grundgedanken etwas genauer zu beleuchten.

Völkerrechtliche Legitimität

Die Idee eines jüdischen Nationalstaates ist nicht, wie von vielen geglaubt, eine Reaktion auf den Holocaust. Tatsächlich wurde die Idee eines jüdischen Nationalstaates bereits 1896 vom Schriftsteller Theodor Herzl aufgeworfen [3]. Für ihn und andere Zionist*innen (so bezeichnen sich Menschen, die einen jüdischen Nationalstaat unterstützen) war ein solcher "Judenstaat" zum Einen dazu geeignet, Sicherheit vor Antisemitischen Pogromen herzustellen, die alle Jüd*innen bereits zu diesem Zeitpunkt bedrohten. Zum Anderen war auch ein ganz gewöhnliches Nationalgefühl für die Staatsbestrebungen verantwortlich, welches radikale Linke gerne als Anhaltspunkt für „Israelkritik" verwenden. Auf diese Kritik möchte ich später eingehen. Für den Augenblick können wir festhalten, dass sich Jüd*innen nicht (nur) als Religionsgemeinschaft, sondern als Volk definiert haben. Sie umfasste und umfasst auch säkulare Jüd*innen.

Für die Zionist*innen schien das heutige Israel als nationale Heimstätte für das jüdische Volk aufgrund dessen historischer Wurzeln am geeignetsten. Entgegen einer populären anti-israelischen Falschbehauptung lebten zu jeder Zeit Jüd*innen in diesem Gebiet. Es lag seit 1922 im britischen Mandatsgebiet „Palästina", welches neben dem heutigen Israel aus den heutigen palästinensischen Autonomiegebieten und dem heutigen Jordanien bestand. Als Übergabebedingung für das britische Mandat forderte der Völkerbund (Vorläufer der Vereinten Nationen) die Verwirklichung der Balfour-Erklärung. Diese versprach die Einrichtung einer „nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk"[4] und bildet somit einen wichtigen Teil der völkerrechtlichen Legitimation des Staates Israel, die vom UN-Teilungsplan 1947 erneut bestätigt wurde. [5]

Die „Nakba" und das Flüchtlingsproblem

Am 14.Mai 1948 war es schließlich so weit: David Ben-Gurion verliest die Unabhängigkeitserklärung und gründet damit den Staat Israel. Bereits in der Erklärung wendet er sich im Namen des israelischen Volkes "selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt sind – an die in Israel lebenden Araber mit dem Aufrufe, den Frieden zu wahren und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und [...] Vertretung in allen Organen des Staates an seinem Aufbau zu verteidigen" [6]. Dieses Zitat weist bereits auf zwei Dinge hin, die „Israelkritiker" gerne als Propaganda gegen den Staat nutzen. Zum Einen behaupten sie, Israel wäre ein Kriegstreiberischer Staat. Neben dem friedlichen Grundton zeigen auch konkrete Handlungen, wie zum Beispiel die Räumung des Gazastreifens unter der Regierung Scharon oder der just erfolgten Freilassung gefangen genommener Palästinenser*innen [7], den grundsätzlichen Willen seitens Israels sowohl zum Frieden als auch zu Konzessionen. Zum Anderen behaupten „Israelkritiker", der Staat sei keine wirkliche Demokratie. Tatsächlich wird die volle Gleichberechtigung arabischer Staatsbürger*innen nicht nur aus der Unabhängigkeitserklärung, sondern aus ihrer ganz realen Repräsentation in hohen politischen und militärischen Ämtern [8] deutlich.

Israels Unabhängigkeitserklärung wurde von den arabischen Staaten nicht anerkannt. Stattdessen erklärten sie dem neu gegründeten Staat bereits am Tag nach seiner Unabhängigkeitserklärung den Krieg. In diesem Krieg fand die Flucht vieler Palästinenser*innen statt. Die arabische Seite (und „Israelkritiker" hierzulande) sprechen in diesem Zusammenhang gerne von einer Vertreibung der Palästinenser*innen durch die Israelis, welche sie häufig als „Nakba" (dh. die Katastrophe) bezeichnen. Hier muss festgestellt werden, dass viele Menschen nicht durch israelische Soldaten vertrieben, sondern von arabischen Autoritäten zur Flucht aufgerufen wurden. Sie sollten so den Vormarsch der arabischen Truppen beschleunigen. [9] Außerdem möchte ich an dieser Stelle auf die in etwa gleiche Anzahl von Jüd*innen hinweisen, die während der Zeit des Unabhängigkeitskrieges aus den arabischen Staaten vertrieben wurden. Im Gegensatz zu den palästinensischen Flüchtlingen, die Israel teilweise repatriierte und/oder entschädigte, entschädigte die arabische Seite jüdische Flüchtlinge nicht für ihr Leid. Auch Ausgleichszahlungen an Israel blieben bisher aus. [10] Die öffentliche Fixierung auf die arabischen Flüchtlinge des Krieges betrachte ich aufgrund dieser Tatsachen als hochgradig tendenziös.

Palästinensische Flüchtlinge bekamen eine eigene UN-Flüchtlingsagentur (die UNRWA) und einen weltweit einzigartigen, weil unbegrenzt vererbbaren, Flüchtlingsstatus zugesprochen. Durch ihn ist es „Israelkritikern“ möglich, die Zahl palästinensischer Flüchtlinge um den Faktor 5 zu übertreiben (während tatsächlich „nur“ ca. 590.000 Menschen flüchteten [11], besitzen heute ca. 3,5 Millionen Palästinenser*innen den Flüchtlingsstatus [12]). Die Lage der Palästinensischen Flüchtlinge in den arabischen Staaten ist seit jeher prekär, weil die Meisten dieser Staaten (mit Ausnahme Jordaniens) auf eine tatsächliche Inklusion in das öffentliche Leben verzichteten. Das Leid der Geflüchteten in den Flüchtlingslagern der arabischen Staaten wird oft für Propaganda gegen Israel missbraucht. Arabische Mitschuld an dieser Situation verschweigen „Israelkritiker“ dabei gerne.

Berechtigte Kritik oder Antisemitismus?


Nachdem ich die Gründungsgeschichte des Staates Israel im letzten Abschnitt kurz darstellte (die Darstellung besitzt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da eine vollständige Behandlung der Materie den Umfang dieses Posts bei Weitem sprengt), möchte ich nun konkret auf die Frage eingehen, wann Kritik im Bezug auf Israel antisemitsch ist. Außerdem werde ich einige weitere Beispiele für Falschbehauptungen bezüglich Israel nennen und widerlegen (auch hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

Den Besten und einfachsten Indikator für Antisemitismus in der Nahostdebatte bietet der von Natan Sharansky entwickelte „3D-Test“ [13]. Die drei Ds beschrieben Eigenschaften, die antisemitische „Israelkritik“ auszeichnen.

Das erste D steht für die Dämonisierung des Staates Israels. Ein bekanntes Beispiel für eine derartige Dämonisierung ist Jakob Augsteins Aussage „Gaza ist ein Gefängnis. Ein Lager. Israel brütet sich dort seine eigenen Gegner aus.“ [14]. Mit der Bezeichnung „Lager“ löst Augstein somit Assoziationen zu den Konzentrationslager der Nazis aus. Wer sich ernsthaft und unvoreingenommen mit der Situation in Israel beschäftigt hat, wird diese Aussage sofort als antisemitische Hassrede entlarven. Dennoch entfalten gerade Vergleiche mit dem Nationalsozialismus in Deutschland eine besondere Wirkung, da sie zur Abwehr der eigenen Schuld dienlich sein können (nach dem Motto „die Juden sind ja auch nicht besser als die Nazis“). Der letzte Satz des Augstein-Zitats enthält darüber hinaus ein weiteres typisches Element des modernen Antisemitismus: die Täter-Opfer-Umkehr. Sie gibt Jüd*innen selbst die Schuld für den Antisemitismus und antisemitische Gewalt [15]. Dabei gerät die vollendete Irrationalität dieser Ideologie leicht ins Vergessen. Sie findet unabhängig der tatsächlichen Handlungen von Jüd*innen immer einen Weg, die Geschehnisse als Teil einer jüdischen Verschwörung umzudeuten.

Das zweite D steht für die Delegitimierung Israels. Sie zielt darauf ab, Israel auf der internationalen Bühne zu diskreditieren und die Forderung einer „ein-Staaten Lösung“ als legitime Alternative zum jüdischen Nationalstaat erscheinen zu lassen. „Israelkritiker“ wischen das legitime Interesse der Jüd*innen auf einen geschützten Raum durch die Behauptung, es gäbe im arabischen Raum keinen Antisemitismus, zur Seite. Auf die Notwendigkeit eines Schutzraumes für Jüd*innen werde ich im Fazit noch genauer eingehen. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle damit begnügen, auf Antisemitische Propaganda in arabischen Fernsehsendern hinzuweisen und eine Dokumentation hierzu in den Fußnoten zu verlinken [16].

Meistens ist die Delegitimierung mit dem dritten D, den doppelten Standards, verbunden. Darüber hinaus gibt es jedoch noch weitere doppelte Standards, die „Israelkritiker“ an den jüdischen Staat – und nur an diesen – anlegen. Ein Beispiel dafür ist die Resolution 3379 der UN, die den Zionismus als Rassismus bezeichnet und in eine Reihe mit den Unrechtsregimen in Zimbabwe und Südafrika (die Resolution wurde 1975 beschlossen) stellte.[17] Die UN erkannte 1991 durch die Rücknahme der Resolution deren Groteskheit an. Ihr 16-Jähriges Bestehen macht dennoch den doppelten Standard deutlich, mit dem allen Nationen der Welt das Recht auf einen eigenen Staat zugesprochen wird, während der Staat Israel ein rassistisches Gebilde sei.

Populäre Falschdarstellungen

Ich werde im folgenden einige persistente Vorurteile gegen Israel nennen und widerlegen. Dabei lasse ich offensichtlich falsche Vorwürfe, wie den des geplanten (wahlweise als ökonomische Ausblutung oder tatsächliche Abschlachtung dargestellten) Völkermordes an den Palästinenser*innen (der sich bereits durch einen einfachen historischen und ökonomischen Blick auf die Situation in den Autonomiegebieten erledigt, aber trotzdem immer wieder auch öffentlich vertreten wird), beiseite. Stattdessen konzentriere ich mich auf einige Behauptungen, die unter radikalen Linken auf große Zustimmung stoßen und deren Widerlegung eine tiefere Kenntnis von historischen Fakten voraussetzt.

Da wäre zum Einen die Falschbehauptung, Israel sei durch die britische Kolonialmacht gegründet worden, um die arabische Bevölkerung von ihrem Land zu vertreiben. Diese Kritik ist natürlich in linken Kreisen, die Neokolonialismus zurecht bekämpfen, sehr anschlussfähig. Allerdings hat sie nichts mit der tatsächlichen Entstehungsgeschichte Israels zu tun. Schließlich wurde das damalige Mandatsgebiet „Palästina“ erst 1922 an Großbritannien übertragen. Die erste große jüdische Migration nach Israel fand bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts statt. So lebten 1914 bereits 90.000 Jüd*innen in „Palästina“, das damals noch dem osmanischen Reich angehörte [18] Migration und Staatsgründung wurden also von Jüd*innen selbst angestoßen. Auch von einer Unterstützung der jüdischen Immigration durch die Kolonialmächte kann ebenfalls keine Rede sein. Großbritannien setzte zum Beispiel 1920, als es sich das Gebiet noch mit Frankreich teilte, auf arabischen Druck Migrationsbeschränkungen für Jüd*innen fest. [19] Arabische Migration nach „Palästina“, die im selben Zeitraum ebenfalls vermehrt stattfand, beschränkten sie nicht.

Weiterhin wird Israel unter Linken häufig als Kriegstreiber*in dargestellt. Hierbei beziehen sich „Israelkritiker“ wahlweise auf einen der Kriege Israels oder den Beginn der zweiten Intifada. Beispielhaft für die israelischen Kriege werde ich Schuldfrage am Sechs-Tage-Krieg diskutieren. Hier werten „Israelkritiker“ den israelische Angriff auf die ägyptischen Truppen im Sinai als kriegstreiberischen Akt. Allerdings wurde er zum Einen durch den Aufmarsch großer Truppenkontingente im Sinai kombiniert mit kriegstreiberischer Rhetorik seitens Ägyptens, zum Anderen (und dies ist für die Völkerrechtliche Bewertung des Angriffes als Präventivschlag entscheidend) durch eine Blockade des Hafens von Eilat, einem wirtschaftlich entscheidenden Knotenpunkt im Golf von Akaba, provoziert. [20] Auch die Eroberung der Golan-Höhen durch Israel fällt unter das militärische Selbstverteidigungsrecht, da von der strategisch günstigen Position auf dem Berg Avital des Öfteren Angriffe auf israelische Zivilist*innen geführt wurden. [21]

Die Schuld für den Beginn der zweiten Intifada bei Ariel Scharon zu suchen ist bei Linken „Israelkritikern“ ebenfalls sehr beliebt, da Scharon als Vertreter des rechten politischen Spektrums ein bequemes Feindbild anbietet. Er bestieg am 28. September 2000 den Tempelberg in Jerusalem [22], der sowohl im Judentum als auch im Islam eine heilige Stätte darstellt und unter palästinensischer Verwaltung steht. Dies wird von vielen als Provokation angesehen, welche die darauf folgende Gewalt auslöste. Arafat und andere hohe palästinensische Funktionäre planten die Intifada jedoch bereits vor Scharons Besuch auf dem Tempelberg. [23] Neben der faktischen Inkorrektheit des Arguments soll hier erneut auf das antisemitische Motiv, die Jüd*innen seien selbst Schuld am Antisemitismus, hingewiesen werden. Dieses scheint bei vielen Vertreter*innen der These mehr oder weniger offensichtlich mitzuschwingen. Mindestens ist das Framing der „Schuld“ auf Seiten der Israelis grob verharmlosend, da palästinensischer Terrorismus dadurch als legitime Reaktion auf eine derartige Provokation erscheint.

Schließlich möchte ich noch auf das von vielen beschworene Tabu der Israelkritik eingehen. Der Vorwurf, man könne Israel nicht kritisieren, ohne als Antisemit*in bezeichnet zu werden, wird gerade in der deutschen „Israelkritik“ sehr häufig erhoben (manchmal in Kombination mit dem sekundär antisemitischen Vorwurf, „die Juden“ würden den Holocaust zu ihrem Vorteil ausnutzen). Er ist selbstverständlich haltlos, wie jede*r sieht, der*die einen Blick auf die (teilweise krass antisemitische [24]) Kritik an israelischer Politik in deutschen Medien wirft. Seine nichtsdestotrotz hohe Ausstrahlungskraft (wie die mediale Resonanz auf das „israelkritische“ Gedicht [25] von Günther Grass zeigt) verdankt er der Anschlussfähigkeit an das uralte antisemitische Motiv der Meinungsdiktatur der „jüdischen Presse“ [26], unter die „Israelkritiker“ wahrscheinlich auch diesen Text einordnen.


A leftist case for Israel

In den letzten Abschnitten habe ich beschrieben, wann Kritik am Staat Israel antisemitisch ist und welche Vorurteile gegen ihn bestehen. Nun wende ich mich den Gründen für einen positiven Bezug auf Israel aus einer radikal linken, Nationen ablehnenden Haltung, zu.

Ein Schutzraum für Jüd*innen ist heute leider immer noch so notwendig wie damals. Sie können an keinem anderen Ort der Welt davon ausgehen, vor antisemitischen Übergriffen geschützt zu sein [27]. Außerdem gilt: solange andere, sich als Volk definierende, Gruppen ein Recht auf einen eigenen Nationalstaat haben, sollte auch dem Judentum ein derartiges Recht zustehen.

Mein explizit positiver Bezug auf Israel, der über die Anerkennung seines Existenzrechtes hinausgeht, nimmt vor allem auf das Wesen des Antisemitismus Bezug. Er ist in seiner expliziten Form von einem eliminatorischen Wahn geprägt, der alle Jüd*innen vernichten will. Deswegen ist es aus menschenrechtlicher Sicht unbedingt geboten, jeder Form des Antisemitismus entgegenzutreten, selbst wenn sie nicht manifest eliminatorisch auftritt. Die „Israelkritik“, welche ich in diesem Text beschreibe, tritt zwar selten derart explizit (obwohl die Forderung nach einer Auflösung des jüdischen Staates im momentanen politischen Klima einer Vernichtung des Judentums den Weg ebnen würde und die Vernichtungsabsicht zumindest unterbewusst mitschwingt), bezieht sich aber immer auf alte antisemitische Vorurteile. Dies erlaubt es Antisemit*innen, unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ Hass gegen den „kollektiven Juden“ [28] zu schüren. Somit kann sich Antisemitismus wie ein unentdeckter Virus unter den Menschen ausbreiten. Aufklärung und ein positiver Bezug auf Israel können die kulturellen Abwehrkräfte jedoch stärken. Das ist heute vielleicht wichtiger denn je.

Fußnoten: (alle Links am 4.3.2014 aufgerufen)

3: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Berlin und Wien 1896
5: Ich kann hier nur einen kurzen Abriss der Gründungsgeschischte Israels geben. Eine ausführliche Beschreibung findet sich in: Rensmann, Jörg: Der Mythos Nakba: Fakten zur israelischen Gründungsgeschichte. Deutsch-Israelische Gesellschaft 2013
9: Rensmann, Jörg: Der Mythos Nakba: Fakten zur israelischen Gründungsgeschichte, Deutsch-Israelische Gesellschaft 2013
11: Davis, Leonard J.: Israel: Behauptngen und Tatsachen. Hänssler-Verlag. Neuhausen-Stuttgart 1987. S.150
12: Die Diffamierungskampagne gegen Israel: Fragen und Antworten. Botschaft des Staates Israel. S.15
15: Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion. 2.Auflage. Francke Verlag. Tübingen und Basel 2013. S.344
18: Siehe [9] S.6
19: ebd. S.8
20: Siehe [11] S.53
21: ebd. S.103-6
26: siehe [15] S.346
27: Aktuelle Entwicklungen können auf http://antisemitism.org.il/# verfolgt werden

28: Schwarz-Friesel, Monika, Reinharz, Jehuda: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter, 2013. (Kap. 5.2 und 7.2)

Donnerstag, 27. Februar 2014

Anfrage an die Sarstedter Verwaltung: Diversity Management

Heute habe ich folgende Anfrage an die Sarstedter Verwaltung gestellt:

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Sehr geehrter Herr Bürgermeister Wondratschek,
Wir leben in einer pluralistischen und vielfältigen Gesellschaft. Nie zuvor wurde diese Realität stärker anerkannt und akzeptiert, als heute. Zunehmend wird Akzeptanz durch öffentliche Verwaltungen in aller Welt aktiv befördert.
Besonders hervorzuheben ist der Ansatz des "Diversity Management", welcher durch nordamerikanische Städte wie Toronto pioniert wurde und inzwischen auch in Deutschland auf immer mehr Interesse stoßt. Diversity Management unterscheidet sich gegenüber klassischer "Integrationspolitik" vor allem durch die Abkehr von der Defizitorientierung, welche Unterschiede als Problem begreift, hin zur Ressourcenorientierung. Es stellt damit die Stärken der Individuen in den Vordergrund und sucht Wege zur optimalen Nutzung derselbigen.
Für uns als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sarstedter Stadtrat ist die gleichberechtigte Teilhabe und Repräsentation aller Menschen ein ethisches Grundprinzip, nach dem wir unser politisches Handeln ausrichten. Über dieses ideele Argument hinaus sprechen auch handfeste praktische Vorteile für die Anwendung des Diversity-Ansatzes in der öffentlichen Verwaltung. So stellt Andreas Merx in seiner im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung verfassten Studie "Von Integration zu Vielfalt: Kommunale Diversitätspolitik in der Praxis" heraus, dass Diversitätspolitik in Verwaltungen zu einer besseren Repräsentanz diskriminierter Gruppen (zum Beispiel Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung, alte Menschen, junge Menschen, Mitglieder nicht-christlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, Alleinerziehende oder Menschen mit nicht-heterosexueller Identität) und zum Abbau von Diskriminierungen führt. Eine diversifizierte Verwaltung kann außerdem besser auf die individuellen Bedürfnisse der Bürger*innen eingehen, was zu einer höheren Akzeptanz in der Öffentlichkeit führen kann.
Dies vorausgeschickt frage ich die Verwaltung:
1. Misst die Verwaltung den Anteil ihrer Mitglieder, welche Mitglied in von Diskriminierung betroffenen Gruppen sind? Welche gesellschaftlichen Gruppen sind im Bezug zu ihrem Anteil an der Gesellschaft in der Verwaltung unterrepräsentiert?
2. Welche Maßnahmen ergreift die Verwaltung, um Unterrepräsentation abzubauen? Werden bei Ausschreibungen zielgruppenspezifische Ansprachen oder Informationsangebote verwendet?
3. Wie wird die Schaffung und Aufrechterhaltung einer diskriminierungsfreien Arbeitsumgebung innerhalb der Verwaltung gefördert? Werden dabei Ansätze wie Diversity-Trainings oder Diversity-Checks einbezogen?
4. Welche Stellen sind für den Abbau von Diskriminierung zuständig? Wie wird die Vernetzung zwischen einzelnen Akteur*innen unterstützt?
5. Inwiefern arbeitet die Verwaltung in relevanten Bereichen der Kund*innenbetreuung mit Betroffenenorganisationen zusammen, um die Empfänglichkeit für zielgruppenspezifische Probleme zu erhöhen?
mit freundlichen Grüßen,
Marcel Duda
(Fraktionsmitglied von Bündnis 90/Die Grünen im Rat der Stadt Sarstedt)
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Mein Zitat für die Pressemitteilung dazu lautete: "Sarstedt ist eine bunte und vielfältige Stadt. Sie ist für Menschen unterschiedlichster Herkunft, sexueller Orientierung oder Religion offen. Viele Kommunen in Deutschland beginnen, die Vielfalt ihrer Bevölkerung als Chance zu nutzen. Sie sprechen gezielt Menschen an, die von Diskriminierung betroffen sind, und versuchen, sie personell und inhaltlich in das Verwaltungshandeln einzubeziehen. Mit unserer Anfrage möchten wir eine Bestandsaufnahme darüber erhalten, welche erfolgreichen Ansätze anderer Kommunen durch die Stadt Sarstedt übernommen werden, um ein ansprechendes Angebot für alle Menschen zu schaffen."