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Mittwoch, 23. September 2015

TiSA: Was uns erwartet

In den letzten Monaten ist Freihandelspolitik immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt. Die Diskussion um die Abkommen TTIP und CETA hat eine größere öffentliche Sensibilität für die Gefahren derartiger Verträge erzeugt (eine Einführung in die Abkommen habe ich auf Youtube hochgeladen). Diese Entwicklung ist angesichts der seit dem Vertrag von Lissabon neuen Zuständigkeit der EU-Kommission für Investitionsschutzabkommen sehr zu begrüßen. Weitreichende Einschnitte wie durch TTIP und CETA dürfen nicht an der Zivilgesellschaft vorbei entschieden werden, sondern müssen idealerweise einen breiten Diskussionsprozess durchlaufen. An Kontroversen scheint es bei den Abkommen momentan nicht mehr zu mangeln.

Relativ unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit laufen jedoch Verhandlungen zu einem Abkommen, das ähnlich weitreichende Folgen wie TTIP oder CETA haben könnte: TiSA. Das "Trade in Services Agreement" wird seit Anfang 2013 von ca. 50 Staaten (eine geographische Übersicht der Verhandlungsparteien findet sich hier) verhandelt, die sich selbst als "Really Good Friends of Services" bezeichnen. TiSA soll die WTO-Bestimmungen zum Handel mit Dienstleistungen, die im GATS-Abkommen ("General Agreement on Trade in Services") festgelegt sind, erweitern und mittelfristig ersetzen. Da etwa noch unklar ist, ob und unter welchen Bedingungen China am Abkommen teilnehmen wird, verzögern sich die Verhandlungen und sind weniger weit fortgeschritten als bei den oben erwähnten Abkommen. Trotzdem sollte die Zivilgesellschaft möglichst früh beginnen, sich mit den weitreichenden Auswirkungen von TiSA zu beschäftigen und die Gegenmobilisierung zu organisieren. Im Juli erschienen auf Wikileaks die aktuellsten geleakten Dokumente der Geheimverhandlungen, was einen idealen Aufhänger bietet, sich auch auf diesem Blog genauer mit TiSA zu beschäftigen. Im Folgenden Post beschreibe ich deshalb einige grundlegende Probleme des TiSA-Abkommens und beziehe mich dabei auf den Wikileaks-Leak sowie einen früheren Report von Public Services International.

Warum TiSA?

Die Grundidee der Welthandelsorganisation (WTO) war es, internationalen Handel multilateral (also mit allen Ländern) zu verhandeln und für alle verbindlich zu machen. Die wichtigsten daraus entstandenen Freihandelsabkommen sind das GATT ("General Agreement on Tariffs and Trade") für den Warenhandel und das bereits erwähnte GATS für den Dienstleistungssektor. Die dort beschlossenen weitgehenden Liberalisierungen gelten für alle WTO-Mitglieder. Ursprünglich war geplant, diese Abkommen multilateral weiterzuverhandeln, doch die Interessen unterschiedlicher Länder sind momentan so divergent, dass eine Einigung über weitere Liberalisierungen unwahrscheinlich scheint. Dieser Umstand führte bei vielen Staaten zu einer Änderung der handelspolitischen Strategie. An die Stelle der stockenden multilateralen Verhandlungen traten immer mehr bilaterale (TTIP, CETA) oder plurilaterale (TiSA) Verhandlungen.

Die an TiSA beteiligten Staaten versuchen mit dem Abkommen, eine weitergehende Liberalisierung aller Dienstleistungen als weltweiten Standard zu setzen. Da die "Really good Friends of Services" in diesem Bereich ähnliche Interessen haben, sollten die Verhandlungen schneller abzuschließen sein als in einem vergleichbaren multilateralen Abkommen. Aufgrund der hohen Marktanteile der beteiligten Staaten im Dienstleistungssektor wären Staaten außerhalb des Abkommens jedoch schnell gezwungen, die selben Standards zu etablieren, wenn sie nicht vom weltweiten Dienstleistungsmarkt ausgeschlossen sein wollen. Auch wenn noch viele juristische Unklarheiten darüber bestehen, wie TiSA neben dem GATS-Regelwerk existieren kann und ob die Regeln später auf die gesamte WTO übertragbar sind, ist die Intention einer Umgehung der WTO (und damit der ärmsten Staaten der Welt und sonstiger Abweichler) offensichtlich. Wer TiSA zulässt, gefährdet also den Multilateralismus und die Legitimität der WTO grundlegend.

"Gleichbehandlung"

Was sind nun die konkreten Punkte, die in TiSA geregelt werden sollen und über die GATS-Regeln hinausgehen? Neben Verschärfungen der Regeln, welche Regierungsmaßnahmen den Grundsatz des "National Treatment", der Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Dienstleistungsanbieter*innen, enthalten, sind vor allem die Ausnahmebestimmungen dieser "National Treatment"-Regeln entscheidend verändert worden. Während sich Staaten im GATS über eine "Positivliste" verpflichteten, bestimmte Sektoren ihrer Wirtschaft zu liberalisieren, steht ihnen in TiSA nur noch eine "Negativliste" zur Verfügung, die alle von der Liberalisierung ausgenommenen Sektoren aufzählt.

Der Negativlistenansatz bedeutet Konkret, dass jeder (auch zukünftig neu entstehende) Dienstleistungssektor standardmäßig vollständig liberalisiert wird. Damit verbunden ist ein Verbot der Subvention inländischer Unternehmen, gesetzlicher Monopole für bestimmte Dienstleistungen und anderer Maßnahmen. Bereits ein indirekter Einfluss einer Regierungshandlung oder eines Gesetzes auf den Handel mit Dienstleistungen reicht aus, um einen Disput nach den Regeln von TiSA auszulösen. Hier besteht großer Spielraum für Interpretationen und damit auch für Missbrauch durch Konzerne, die bestimmte Gesetze ablehnen.

Nichts aus der Finanzkrise gelernt?!

Was eine nationale Behandlung konkret bedeuten kann, lässt sich gut am Anhangstext zu Finanzdienstleistungen verdeutlichen, der auf Wikileaks ausführlicher als hier analysiert wird. Bei Betrachtung der diskutierten Liberalisierungen lässt sich die Frage stellen, ob die beteiligten Regierungen zukünftige Finanzkrisen wahrscheinlicher machen wollen, oder einfach nur vollkommen in ihrer marktradikalen Ideologie gefangen sind: Bestehende Finanzmarktregularien werden einer Anfechtung durch private Schiedsgerichte ausgesetzt, die Regulierung zukünftiger riskanter Finanzprodukte wird durch Stillhalteklauseln verboten und auch wichtige Notmaßnahmen wie Kapitalkontrollen sind im neoliberalen Regelwerk von TiSA nicht mehr vorgesehen.

Einige Punkte des TiSA-Textes zu Finanzdienstleistungen kennen wir schon von TTIP und CETA. Zum Einen ist hier der regulatorische Rat zu nennen, in dem Finanzdienstleistungsunternehmen vor jeder Regulierung des Finanzsektors befragt werden müssen, ob die Regulation ihre Geschäftstätigkeit einschränkt. Diese Beratung kostet vor allem wertvolle Zeit. Zum Anderen besteht auch die Pflicht, Regulierungen weiter nach unten zu "harmonisieren" oder liberalere Regeln aus anderen Staaten als gleichwertig anzuerkennen. Somit ist mit TiSA ein "Race to the bottom" mit immer schwächeren Standards weltweit vorprogrammiert.

Öffentliche Beschaffung

Ein wichtiger Aspekt der TiSA-Verhandlungen ist die öffentliche Beschaffung, die ebenfalls in einem eigenen Anhang geregelt ist. Die Besonderheit dieses Bereiches liegt darin, dass er nicht Teil des GATS-Abkommens war, sondern ein eigenes "Government Procurement Agreement" (GPA) in der WTO betrifft, dem weit weniger Staaten beigetreten sind. Da öffentliche Beschaffung einen Großteil des weltweiten BIP ausmacht und in den meisten Staaten der Erde noch deutliche Vorteile für öffentliche oder lokale Anbieter*innen existieren, sind die Profitmöglichkeiten durch eine Liberalisierung besonders groß.

Öffentliche Beschaffung unterliegt wie alle Bereiche im TiSA-Abkommen einer strengen Liberalisierung. Dienstleistungen, die unter TiSA einmal dem Markt geöffnet worden, können nicht mehr unter die bisherige Marktkontrolle der Staaten gebracht werden. Sowohl Marktzugangsbeschränkungen nicht-lokaler Anbieter*innen als auch Preispräferenzen für lokale Unternehme wären unter TiSA verboten. Damit wird auch für zukünftige Regierungen die Möglichkeit genommen, über öffentliche Auftragsvergaben Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die ohnehin schwachen Ausnahmeklauseln für hoheitliche Aufgaben, die im GATS enthalten sind, sollen mit TiSA wegfallen. Somit wären alle Bereiche des Staates der Privatisierung unterworfen.

Transparenz?

Die Diskussionen um TTIP und CETA haben gezeigt, dass Transparenz in Handelsverhandlungen für deren öffentliche Wahrnehmung entscheidend ist. Tatsächlich enthält der TiSA-Text einen Anhang zu Transparenz. Doch die "Really good Friends of Services" verstehen etwas ganz anderes unter Transparenz als es sich die Zivilgesellschaft wünschen würde. Während die Verhandlungen zu TiSA völlig geheim ablaufen (die Verhandlungsparteien haben sich bereits zusichern lassen, dass ihre Verhandlungsdokumente und der TiSA-Text noch 5 Jahre nach dem Inkrafttreten von TiSA geheim bleiben) und nur durch Leaks an die Öffentlichkeit gelangen, soll Konzernen unter TiSA ein exklusiver Zugang zum Gesetzgebungsprozess eingeräumt werden.

Tritt TiSA in der jetzigen Form in Kraft, müssen alle Gesetzesentwürfe oder Regierungsentscheidungen mit 60-tägiger Vorlauffrist an die anderen TiSA-Staaten sowie interessierte Unternehmen gegeben werden. Diesen wird die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, ob die vorgeschlagenen Gesetze den Handel mit Dienstleistungen einschränken. Auf diese Stellungnahmen müssen Regierungen antworten, bevor sie Gesetze beschließen können. Da die Anzahl möglicher Einwände durch Firmen und Staaten unbegrenzt ist, würde dieses Prozedere demokratische Prozesse entscheidend verlangsamen. Die USA und Australien fordern gar ein "Tribunal", das über die Zulässigkeit von Gesetzen anhand ihrer Auswirkungen auf den Handel mit Dienstleistungen entscheiden soll, und demokratische Prinzipien wohl vollends über Bord werfen würden.

Werden die Konzerne einer ähnlichen Transparenzverpflichtung wie die Regierungen unterworfen sein? Damit ist nicht zu rechnen. Stattdessen fordert etwa die Schweiz, breit angelegte Bestimmungen zu "Geschäftsgeheimnissen" in TiSA aufzunehmen, die Firmen vor dem behördlichen Zugriff auf ihre Daten schützen soll. Ob diese Forderung ein Weg ist, das de facto abgeschaffte Bankgeheimnis der Schweiz und somit den Status als Steueroase über die Hintertür TiSA wiederherzustellen, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Ob die Schweiz mit ihrem Vorschlag erfolgreich sein wird, ist ebenfalls offen. Fest steht, dass keine Erhöhung von Transparenzverpflichtungen für Unternehmen diskutiert werden.

Fazit

Bereits dieser kurze Ausschnitt aus dem Verhandlungsstand zu TiSA zeigt: dieses Abkommen hat das Potenzial, demokratische Prozeduren und sinnvolle Regulierungen des Dienstleistungssektors auszuhebeln. Wer zu recht Widerstand gegen TTIP und CETA leistet, muss deshalb auch über TiSA reden. Es ist an der Zeit, dieses Abkommen ins Bewusstsein der Anti-TTIP-Bewegung und schließlich auch der Öffentlichkeit zu rücken! Es zu stoppen ist aufgrund der höheren Anzahl von Verhandlungsparteien wohl noch schwieriger und wird einiges an Vorlaufzeit benötigen. Packen wir es an!

Freitag, 9. Januar 2015

10 Jahre Hartz-4: Zeit für eine Abrechnung!

Der Jahresbeginn 2015 markiert das 10-Jährige Jubiläum der vierten Stufe der Hartz-Reformen. In diesen 10 Jahren hat der Name Hartz-4 einen hohen Symbolgehalt erlangt. Je nach Milieu und politischer Ausrichtung steht Hartz-4 für eine beispiellose wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die Prekarisierung des deutschen Arbeitsmarktes, eine Subventionierung von Faulheit oder die eigenen Existenzschwierigkeiten und –Ängste.  Das Gesetz ist, neben der Einführung der Riesterrente, der mit Abstand größte politische Fehler der Rot-Grünen Bundesregierung Schröder. Anlass genug, sich zum 10. Jahrestag der Reform genauer mit seinen Auswirkungen auf Deutschland und Europa zu beschäftigen. Eine Polemik:

Auswirkungen der Reform auf das soziale Zusammenleben

Häufig beschränkt sich die öffentliche Debatte über die Hartz-Reformen entweder auf den sozialen oder den wirtschaftlichen Aspekt. Dabei wird außer Acht gelassen, wie stark diese Dimensionen zusammenwirken. Da Hartz-4 eine sozialpolitische Reform war, ist es sinnvoll, zunächst die Auswirkungen des Gesetzes auf das soziale Zusammenleben zu betrachten. Ein Großteil der wirtschaftlichen Folgen der Reform ergibt sich aus dem sozialen Umbruch, der sich im Zuge der Hartz-Reformen vollzog.

Hartz-4 markiert, wenn wir die Typologie von Ingrid Hohenleitner und Thomas Straubhaar [1] verwenden, den Übergang des konservativen deutschen sozialen Sicherungssystems in ein liberales Sicherungssystem. Im Fokus der sozialstaatlichen Überlegungen steht nicht mehr die bedarfsgerechte Abdeckung des Existenzminimums, sondern die ständige Suche nach „Leistungsgerechtigkeit“. Der Begriff der Leistungsgerechtigkeit befindet sich in Anführungszeichen, da weder unentgeltlich geleistete ehrenamtliche Arbeit, noch Fürsorgearbeit, noch andere Arbeiten, die nicht auf einem Markt gehandelt werden, im liberalen Leistungsverständnis als Leistung gelten. Im Hartz-System gilt lediglich als unterstützenswert, wer sich dem Vermittlungssystem unterwirft und jede „zumutbare“ Beschäftigung annimmt.

Welche Beschäftigung als „zumutbar“ gelten darf, liegt selbstverständlich nicht in der Bewertungskompetenz der Betroffenen, sondern im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters. Diese Arbeitsagenturen, die durch ihre Sanktionspraktiken über die existenzielle Zukunft ihrer „Kund*innen“ entscheiden, sind denkbar menschenfeindlich organisiert. Die Aufgabe der Betreuer*innen ist nicht etwa, eine zufriedenstellende Beratung der Arbeitssuchenden sicherzustellen, sondern die Erfüllung von Vermittlungsquoten. Mit jeder Vermittlung in Zeitarbeit oder in häufig sinnlose Qualifizierungsangebote ist eine erwerbslose Person aus der Arbeitslosenstatistik entfernt. Die jeweiligen Bundesregierungen können sich mit den gesunkenen Arbeitslosenzahlen rühmen, während die Mehrzahl der Menschen den Preis dafür zahlen muss.

Die Mehrzahl der Menschen? Treffen die Hartz-Gesetze nicht „nur“ Erwerbslose und Menschen, die in prekäre Beschäftigung vermittelt wurden? Weit gefehlt! Eine derart starke Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung lässt natürlich auch die Mittelschicht nicht kalt. Denn wer noch nicht im Kreislauf der Prekarisierung gefangen ist, muss jederzeit damit rechnen, erwerbslos zu werden und den sozialen Anschluss zu verlieren.

Diese Überlegung führt uns zum von Hartz-4 angestoßenen Bewusstseinswandel. Während Erwerbslosigkeit früher stärker (wenn auch nicht vollständig) als zufälliger Rückschlag im kapitalistischen Wettbewerb, den das Individuum nur begrenzt beeinflussen kann, begriffen wurde,  befinden wir uns nun im Zeitalter des Neoliberalismus, in dem jeder Mensch Unternehmer*in seiner*ihrer Selbst ist. Die Bedingungslose Anpassung an die Bedürfnisse des Marktes ist das neue Ideal. Wer nicht mitmachen will, soll auch nicht essen dürfen. Wer dem „kranken Mann Europas“ auf die Beine helfen und „Exportweltmeister“ werden will, soll dafür persönliche Opfer erbringen, so die fast einhellige Meinung der politischen Feuilletonisten.

Besonders erschreckt der große Erfolg, den die Koordinierte Entsolidarisierung der Gesellschaft zeitigte. Frei nach dem Motto „nach oben buckeln, nach unten treten“ wandte die deutsche Bevölkerung ihre Wut nicht gegen die Reformen, sondern schloss sich den Hetzkampagnen der Springerpresse und der privaten TV-Sender gegen „Sozialschmarrotzer“ an. Beispielhaft hierfür sind die große Popularität der Berichterstattung über „Deutschlands frechsten Arbeitslosen“ [2] sowie die Entstehung des Fernsehgenres „Assi-TV“ zu nennen. Der „Hartzer“ wurde so nach und nach des Deutschen liebstes Lach- und Hassobjekt. 

Doch nicht nur Erwerbslose sind vom gesellschaftlichen Hassklima betroffen. Da Armut nun stärker als je zuvor als persönliche Verfehlung definiert wird, erhält die Debatte um „Armutszuwanderung“ neuen Aufschwung. Die Logik dahinter: Wer arm ist, ist arm, weil er*sie ein schlechter Mensch ist. Kommen schlechte Menschen zu „uns“, nehmen sie uns unser Geld und machen uns arm. Rassismus und Sozialdarwinismus ergänzen sich hier perfekt. Auch wenn die wirtschaftliche Situation von Menschen nicht der Auslöser von Rassismus ist (dieses Phänomen existiert leider auch in „guten Zeiten“ zur Genüge), so ist Ungleichheit definitiv ein begünstigender Faktor für Agressionsverschiebungen auf benachteiligte Gesellschaftsgruppen. [3]

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die Hartz-Reformen veränderten die Binnenkonjunktur Deutschlands und der EU nachhaltig. Entscheidend sind dabei nicht neu geschaffene Jobs (die sich häufig als Aufteilung sozialversicherungspflichtiger Arbeit in Minijobs und Scheinselbständigkeiten entpuppten [4]), sondern eine gravierende Veränderung in der Verhandlungsposition von Arbeitnehmer*innen. Wie im letzten Kapitel angemerkt, sorgt das Hartz-System bei Erwerbslosen für Zwang, jede Arbeit anzunehmen, und bei Beschäftigten für Verlustängste, die jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als verkraftbar erscheinen lassen. Des Weiteren wirkt die gesellschaftliche Betrachtung des Menschen als Humankapital, das selbst schuld ist, wenn es sich nicht genügend weiterentwickelt und den Anschluss verpasst, erstickend auf jeden Versuch der kollektiven Organisation von Arbeitnehmer*inneninteressen.

Somit sind sowohl aus soziologischer als auch psychologischer und materieller Sicht die Verhandlungspositionen der Arbeiter*innen massiv gesunken. Die Folgen sind ein rapider Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaften [5] und eine Zurückhaltung bezüglich Arbeitskampfmaßnahmen. Streiks sind in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Seltenheit. Die ohnehin niedrig angesetzten Lohnforderungen werden durch zu niedrige Hartz-4-Regelsätze, die für eine niedrigere Inflation sorgen, nicht gerade positiv beeinflusst. Die Folge dieser Reformbedingten Entwicklungen: im Vergleich zum Rest der EU steigen die Löhne in Deutschland nur sehr langsam. [6]

Die zurückhaltende Lohnentwicklung in Deutschland wirkt sich auf mehreren Kanälen auf die Wettbewerbsdynamik im Euroraum aus. Da die Möglichkeit der Währungsabwertung im Euroraum nicht mehr besteht, sind Firmen in anderen Euroländern gezwungen, ihre Lohnstückkosten weiter zu senken, um im Vergleich zu Deutschland konkurrenzfähig zu bleiben. Die deutsche Sozialpolitik erzeugt einen deflationären Druck in den anderen Eurostaaten, der in einigen Staaten der Peripherie bereits seit mehr als einem Jahr zu fallenden Preisen führt [7]. Die Volkswirtschaftlichen Folgen fallender Preise sind hinlänglich bekannt: Investitionen bleiben aus, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinkt, Firmen müssen die Preise ihrer Produkte weiter senken und entlassen Beschäftigte, was wiederum die Nachfrage- und Preisentwicklung dämpft. Wir befinden uns in einer klassischen Deflationsspirale, die jede Chance auf eine Erholung nach der Finanzkrise zunichtemacht.

„Finanzkrise“ ist ein gutes Stichwort für die finanzpolitischen Auswirkungen der Hartz-Reformen. Da Real- und Finanzsektor untrennbar miteinander verknüpft sind, bleiben Investitionsentscheidungen von sozialpolitischen Entwicklungen nicht unverschont. Sinkende oder nur langsam steigende Reallöhne verursachen aufgrund ihrer Umverteilungswirkung von unten nach oben unweigerlich ein Nachfragedefizit. Wer wenig Geld besitzt, hat schließlich weniger Möglichkeiten, selbiges zu horten oder in unproduktive und häufig destabilisierende Vermögensinvestitionen (zum Beispiel Immobilienspekulationen) anzulegen. Deshalb bildet eine relativ gut situierte Mittel- und Unterschicht das Rückgrat einer kapitalistischen Volkswirtschaft. Ist die stützende Nachfrage in der Breite der Gesellschaft durch Lohnzurückhaltung und mangelhafte Sozialleistungen erloschen, sind produktive Investitionen weniger lukrativ als Spekulationen auf Vermögensobjekte. Direkte öffentliche Investitionen könnten diesen Rückgang höchstens unvollständig ausgleichen. Doch im Zuge der neoliberalen Staatsfeindlichkeit werden auch sie weiter zurückgefahren.

Nicht nur Bilanztechnisch ist ein Exportüberschuss wie in Deutschland immer mit einem Kapitalexport verbunden. Auch sachlogisch ist nicht verwunderlich, dass überschüssige deutsche Ersparnisse vor allem in Staaten flossen, die noch eine funktionierende Binnenkonjunktur hatten. Somit war es auch deutsches Geld, das den Immobiliensektor in Spanien oder den Bankensektor in Irland über jegliches tragbares Maß hinaus aufpumpte und die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa mitverursachte. In Investor*innenkreisen hat sich für dieses Phänomen das geflügelte Wort „dumb german money“ [8] eingebürgert. Wäre die Nachfrage in Deutschland nicht durch Hartz-4 gedrückt worden, hätte die Blasenbildung an den Finanzmärkten wenigstens teilweise gemindert werden können.

Fazit und Ausblick

10 Jahre nach dem Abschluss der Hartz-4 Reformen lässt sich konstatieren: sie haben Deutschland und Europa zu einem schlechteren Ort gemacht. Während die Erwerbslosenzahlen in Deutschland zurückgehen, öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter. Mit seiner aggressiven Lohndumpingspolitik exportiert Deutschland seine Arbeitslosigkeit in andere Euroländer und verschärft die wirtschaftlichen Krisen dort.

Doch statt aus der Erfahrung mit Hartz-4 zu lernen, feiern große Teile der deutschen Politik die Reform als Erfolg. Sowohl die SPD als auch die Grünen haben sich bisher lediglich halbherzig davon distanziert und fordern Nachbesserungen im Detail (etwa ein Sanktionsmoratorium), die den Grundgedanken (und Grundfehler) „fördern und fordern“ nicht antasten. Für progressive Alternativen der sozialen Sicherung wie die eines Bedingungslosen Grundeinkommens fehlt jeglicher gesellschaftlicher Wille. So bleibt 10 Jahre nach Hartz-4 auch zu konstatieren, dass uns dieses entmündigende System wohl noch eine Weile erhalten bleiben wird. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, weiter offensiv für linke Alternativen zum neoliberalen Gesellschaftsbild zu werben. Das „Jubiläum“ von Hartz-4 bietet schließlich eine gute Gelegenheit, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu setzen.



Endnoten (alle Links aufgerufen am 5.1.2015):

[2]: für eine kritische Darstellung siehe http://www.bildblog.de/1952/verarschen-kann-bild-uns-alleine/
[3]: vgl. Richard Wilkinson, Kate Pickett, 2009. Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Tolkemitt Verlag, Berlin, S.194.
[5]: vgl. Mareike Alscher, u. a., 2009: Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Berlin, S. 53.
        [7]: Kerstin Bernoth, Marcel Fratzscher, Philipp König, “Schwache Preisentwicklung und Deflationsgefahr im Euroraum: Grenzen der konventionellen Geldpolitik.” DIW, 2014.