Der Jahresbeginn 2015 markiert das 10-Jährige Jubiläum der
vierten Stufe der Hartz-Reformen. In diesen 10 Jahren hat der Name Hartz-4
einen hohen Symbolgehalt erlangt. Je nach Milieu und politischer Ausrichtung
steht Hartz-4 für eine beispiellose wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die
Prekarisierung des deutschen Arbeitsmarktes, eine Subventionierung von Faulheit
oder die eigenen Existenzschwierigkeiten und –Ängste. Das Gesetz ist, neben der Einführung der Riesterrente,
der mit Abstand größte politische Fehler der Rot-Grünen Bundesregierung
Schröder. Anlass genug, sich zum 10. Jahrestag der Reform genauer mit seinen
Auswirkungen auf Deutschland und Europa zu beschäftigen. Eine Polemik:
Auswirkungen der Reform auf das
soziale Zusammenleben
Häufig beschränkt sich die öffentliche Debatte über die
Hartz-Reformen entweder auf den sozialen oder den wirtschaftlichen Aspekt.
Dabei wird außer Acht gelassen, wie stark diese Dimensionen zusammenwirken. Da
Hartz-4 eine sozialpolitische Reform war, ist es sinnvoll, zunächst die
Auswirkungen des Gesetzes auf das soziale Zusammenleben zu betrachten. Ein
Großteil der wirtschaftlichen Folgen der Reform ergibt sich aus dem sozialen
Umbruch, der sich im Zuge der Hartz-Reformen vollzog.
Hartz-4 markiert, wenn wir die Typologie von Ingrid Hohenleitner
und Thomas Straubhaar [1] verwenden, den Übergang des konservativen deutschen
sozialen Sicherungssystems in ein liberales Sicherungssystem. Im Fokus der sozialstaatlichen
Überlegungen steht nicht mehr die bedarfsgerechte Abdeckung des Existenzminimums,
sondern die ständige Suche nach „Leistungsgerechtigkeit“. Der Begriff der
Leistungsgerechtigkeit befindet sich in Anführungszeichen, da weder
unentgeltlich geleistete ehrenamtliche Arbeit, noch Fürsorgearbeit, noch andere
Arbeiten, die nicht auf einem Markt gehandelt werden, im liberalen
Leistungsverständnis als Leistung gelten. Im Hartz-System gilt lediglich als
unterstützenswert, wer sich dem Vermittlungssystem unterwirft und jede
„zumutbare“ Beschäftigung annimmt.
Welche Beschäftigung als „zumutbar“ gelten darf, liegt
selbstverständlich nicht in der Bewertungskompetenz der Betroffenen, sondern im
Zuständigkeitsbereich des Jobcenters. Diese Arbeitsagenturen, die durch ihre
Sanktionspraktiken über die existenzielle Zukunft ihrer „Kund*innen“ entscheiden,
sind denkbar menschenfeindlich organisiert. Die Aufgabe der Betreuer*innen ist
nicht etwa, eine zufriedenstellende Beratung der Arbeitssuchenden
sicherzustellen, sondern die Erfüllung von Vermittlungsquoten. Mit jeder
Vermittlung in Zeitarbeit oder in häufig sinnlose Qualifizierungsangebote ist
eine erwerbslose Person aus der Arbeitslosenstatistik entfernt. Die jeweiligen
Bundesregierungen können sich mit den gesunkenen Arbeitslosenzahlen rühmen,
während die Mehrzahl der Menschen den Preis dafür zahlen muss.
Die Mehrzahl der Menschen? Treffen die Hartz-Gesetze nicht
„nur“ Erwerbslose und Menschen, die in prekäre Beschäftigung vermittelt wurden?
Weit gefehlt! Eine derart starke Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung
lässt natürlich auch die Mittelschicht nicht kalt. Denn wer noch nicht im
Kreislauf der Prekarisierung gefangen ist, muss jederzeit damit rechnen,
erwerbslos zu werden und den sozialen Anschluss zu verlieren.
Diese Überlegung führt uns zum von Hartz-4 angestoßenen
Bewusstseinswandel. Während Erwerbslosigkeit früher stärker (wenn auch nicht
vollständig) als zufälliger Rückschlag im kapitalistischen Wettbewerb, den das
Individuum nur begrenzt beeinflussen kann, begriffen wurde, befinden wir uns nun im Zeitalter des
Neoliberalismus, in dem jeder Mensch Unternehmer*in seiner*ihrer Selbst ist.
Die Bedingungslose Anpassung an die Bedürfnisse des Marktes ist das neue Ideal.
Wer nicht mitmachen will, soll auch nicht essen dürfen. Wer dem „kranken Mann
Europas“ auf die Beine helfen und „Exportweltmeister“ werden will, soll dafür
persönliche Opfer erbringen, so die fast einhellige Meinung der politischen
Feuilletonisten.
Besonders erschreckt der große Erfolg, den die Koordinierte
Entsolidarisierung der Gesellschaft zeitigte. Frei nach dem Motto „nach oben
buckeln, nach unten treten“ wandte die deutsche Bevölkerung ihre Wut nicht
gegen die Reformen, sondern schloss sich den Hetzkampagnen der Springerpresse
und der privaten TV-Sender gegen „Sozialschmarrotzer“ an. Beispielhaft hierfür
sind die große Popularität der Berichterstattung über „Deutschlands frechsten
Arbeitslosen“ [2] sowie die Entstehung des Fernsehgenres „Assi-TV“ zu nennen.
Der „Hartzer“ wurde so nach und nach des Deutschen liebstes Lach- und
Hassobjekt.
Doch nicht nur Erwerbslose sind vom gesellschaftlichen
Hassklima betroffen. Da Armut nun stärker als je zuvor als persönliche
Verfehlung definiert wird, erhält die Debatte um „Armutszuwanderung“ neuen
Aufschwung. Die Logik dahinter: Wer arm ist, ist arm, weil er*sie ein
schlechter Mensch ist. Kommen schlechte Menschen zu „uns“, nehmen sie uns unser
Geld und machen uns arm. Rassismus und Sozialdarwinismus ergänzen sich hier
perfekt. Auch wenn die wirtschaftliche Situation von Menschen nicht der
Auslöser von Rassismus ist (dieses Phänomen existiert leider auch in „guten
Zeiten“ zur Genüge), so ist Ungleichheit definitiv ein begünstigender Faktor
für Agressionsverschiebungen auf benachteiligte Gesellschaftsgruppen. [3]
Wirtschaftliche
Auswirkungen
Die Hartz-Reformen veränderten die Binnenkonjunktur
Deutschlands und der EU nachhaltig. Entscheidend sind dabei nicht neu
geschaffene Jobs (die sich häufig als Aufteilung sozialversicherungspflichtiger
Arbeit in Minijobs und Scheinselbständigkeiten entpuppten [4]), sondern eine
gravierende Veränderung in der Verhandlungsposition von Arbeitnehmer*innen. Wie
im letzten Kapitel angemerkt, sorgt das Hartz-System bei Erwerbslosen für
Zwang, jede Arbeit anzunehmen, und bei Beschäftigten für Verlustängste, die
jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als verkraftbar erscheinen lassen.
Des Weiteren wirkt die gesellschaftliche Betrachtung des Menschen als
Humankapital, das selbst schuld ist, wenn es sich nicht genügend
weiterentwickelt und den Anschluss verpasst, erstickend auf jeden Versuch der
kollektiven Organisation von Arbeitnehmer*inneninteressen.
Somit sind sowohl aus soziologischer als auch
psychologischer und materieller Sicht die Verhandlungspositionen der
Arbeiter*innen massiv gesunken. Die Folgen sind ein rapider Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaften
[5] und eine Zurückhaltung bezüglich Arbeitskampfmaßnahmen. Streiks sind in
Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Seltenheit. Die
ohnehin niedrig angesetzten Lohnforderungen werden durch zu niedrige
Hartz-4-Regelsätze, die für eine niedrigere Inflation sorgen, nicht gerade
positiv beeinflusst. Die Folge dieser Reformbedingten Entwicklungen: im
Vergleich zum Rest der EU steigen die Löhne in Deutschland nur sehr langsam. [6]
Die zurückhaltende Lohnentwicklung in Deutschland wirkt sich
auf mehreren Kanälen auf die Wettbewerbsdynamik im Euroraum aus. Da die
Möglichkeit der Währungsabwertung im Euroraum nicht mehr besteht, sind Firmen
in anderen Euroländern gezwungen, ihre Lohnstückkosten weiter zu senken, um im
Vergleich zu Deutschland konkurrenzfähig zu bleiben. Die deutsche Sozialpolitik
erzeugt einen deflationären Druck in den anderen Eurostaaten, der in einigen
Staaten der Peripherie bereits seit mehr als einem Jahr zu fallenden Preisen
führt [7]. Die Volkswirtschaftlichen Folgen fallender Preise sind hinlänglich
bekannt: Investitionen bleiben aus, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinkt,
Firmen müssen die Preise ihrer Produkte weiter senken und entlassen
Beschäftigte, was wiederum die Nachfrage- und Preisentwicklung dämpft. Wir
befinden uns in einer klassischen Deflationsspirale, die jede Chance auf eine
Erholung nach der Finanzkrise zunichtemacht.
„Finanzkrise“ ist ein gutes Stichwort für die
finanzpolitischen Auswirkungen der Hartz-Reformen. Da Real- und Finanzsektor
untrennbar miteinander verknüpft sind, bleiben Investitionsentscheidungen von
sozialpolitischen Entwicklungen nicht unverschont. Sinkende oder nur langsam
steigende Reallöhne verursachen aufgrund ihrer Umverteilungswirkung von unten
nach oben unweigerlich ein Nachfragedefizit. Wer wenig Geld besitzt, hat
schließlich weniger Möglichkeiten, selbiges zu horten oder in unproduktive und
häufig destabilisierende Vermögensinvestitionen (zum Beispiel
Immobilienspekulationen) anzulegen. Deshalb bildet eine relativ gut situierte
Mittel- und Unterschicht das Rückgrat einer kapitalistischen Volkswirtschaft.
Ist die stützende Nachfrage in der Breite der Gesellschaft durch
Lohnzurückhaltung und mangelhafte Sozialleistungen erloschen, sind produktive
Investitionen weniger lukrativ als Spekulationen auf Vermögensobjekte. Direkte
öffentliche Investitionen könnten diesen Rückgang höchstens unvollständig
ausgleichen. Doch im Zuge der neoliberalen Staatsfeindlichkeit werden auch sie weiter
zurückgefahren.
Nicht nur Bilanztechnisch ist ein Exportüberschuss wie in
Deutschland immer mit einem Kapitalexport verbunden. Auch sachlogisch ist nicht
verwunderlich, dass überschüssige deutsche Ersparnisse vor allem in Staaten
flossen, die noch eine funktionierende Binnenkonjunktur hatten. Somit war es
auch deutsches Geld, das den Immobiliensektor in Spanien oder den Bankensektor
in Irland über jegliches tragbares Maß hinaus aufpumpte und die Wirtschafts-
und Finanzkrise in Europa mitverursachte. In Investor*innenkreisen hat sich für
dieses Phänomen das geflügelte Wort „dumb german money“ [8] eingebürgert. Wäre
die Nachfrage in Deutschland nicht durch Hartz-4 gedrückt worden, hätte die
Blasenbildung an den Finanzmärkten wenigstens teilweise gemindert werden
können.
Fazit und Ausblick
10 Jahre nach dem Abschluss der Hartz-4 Reformen lässt sich
konstatieren: sie haben Deutschland und Europa zu einem schlechteren Ort
gemacht. Während die Erwerbslosenzahlen in Deutschland zurückgehen, öffnet sich
die Schere zwischen Arm und Reich weiter. Mit seiner aggressiven
Lohndumpingspolitik exportiert Deutschland seine Arbeitslosigkeit in andere
Euroländer und verschärft die wirtschaftlichen Krisen dort.
Doch statt aus der Erfahrung mit Hartz-4 zu lernen, feiern
große Teile der deutschen Politik die Reform als Erfolg. Sowohl die SPD als
auch die Grünen haben sich bisher lediglich halbherzig davon distanziert und
fordern Nachbesserungen im Detail (etwa ein Sanktionsmoratorium), die den
Grundgedanken (und Grundfehler) „fördern und fordern“ nicht antasten. Für
progressive Alternativen der sozialen Sicherung wie die eines Bedingungslosen
Grundeinkommens fehlt jeglicher gesellschaftlicher Wille. So bleibt 10 Jahre
nach Hartz-4 auch zu konstatieren, dass uns dieses entmündigende System wohl
noch eine Weile erhalten bleiben wird. Das sollte uns aber nicht davon
abhalten, weiter offensiv für linke Alternativen zum neoliberalen
Gesellschaftsbild zu werben. Das „Jubiläum“ von Hartz-4 bietet schließlich eine
gute Gelegenheit, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu setzen.
Endnoten (alle Links aufgerufen am 5.1.2015):
[2]: für eine kritische Darstellung siehe http://www.bildblog.de/1952/verarschen-kann-bild-uns-alleine/
[3]: vgl.
Richard Wilkinson, Kate Pickett, 2009. Gleichheit ist Glück: Warum
gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Tolkemitt Verlag, Berlin, S.194.
[4]: vgl. https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2013/mai/agenda-2010-%E2%80%93-die-grosse-beschaeftigungsillusion
(leider nicht kostenfrei erhältlich)
[5]: vgl. Mareike Alscher, u. a., 2009: Bericht zur Lage und
zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Berlin,
S. 53.
[6]: vgl. zum Beispiel http://www.boeckler.de/41624_41638.htm
[7]: Kerstin Bernoth, Marcel
Fratzscher, Philipp König, “Schwache Preisentwicklung und Deflationsgefahr im
Euroraum: Grenzen der konventionellen Geldpolitik.” DIW, 2014.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen