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Freitag, 9. Januar 2015

10 Jahre Hartz-4: Zeit für eine Abrechnung!

Der Jahresbeginn 2015 markiert das 10-Jährige Jubiläum der vierten Stufe der Hartz-Reformen. In diesen 10 Jahren hat der Name Hartz-4 einen hohen Symbolgehalt erlangt. Je nach Milieu und politischer Ausrichtung steht Hartz-4 für eine beispiellose wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, die Prekarisierung des deutschen Arbeitsmarktes, eine Subventionierung von Faulheit oder die eigenen Existenzschwierigkeiten und –Ängste.  Das Gesetz ist, neben der Einführung der Riesterrente, der mit Abstand größte politische Fehler der Rot-Grünen Bundesregierung Schröder. Anlass genug, sich zum 10. Jahrestag der Reform genauer mit seinen Auswirkungen auf Deutschland und Europa zu beschäftigen. Eine Polemik:

Auswirkungen der Reform auf das soziale Zusammenleben

Häufig beschränkt sich die öffentliche Debatte über die Hartz-Reformen entweder auf den sozialen oder den wirtschaftlichen Aspekt. Dabei wird außer Acht gelassen, wie stark diese Dimensionen zusammenwirken. Da Hartz-4 eine sozialpolitische Reform war, ist es sinnvoll, zunächst die Auswirkungen des Gesetzes auf das soziale Zusammenleben zu betrachten. Ein Großteil der wirtschaftlichen Folgen der Reform ergibt sich aus dem sozialen Umbruch, der sich im Zuge der Hartz-Reformen vollzog.

Hartz-4 markiert, wenn wir die Typologie von Ingrid Hohenleitner und Thomas Straubhaar [1] verwenden, den Übergang des konservativen deutschen sozialen Sicherungssystems in ein liberales Sicherungssystem. Im Fokus der sozialstaatlichen Überlegungen steht nicht mehr die bedarfsgerechte Abdeckung des Existenzminimums, sondern die ständige Suche nach „Leistungsgerechtigkeit“. Der Begriff der Leistungsgerechtigkeit befindet sich in Anführungszeichen, da weder unentgeltlich geleistete ehrenamtliche Arbeit, noch Fürsorgearbeit, noch andere Arbeiten, die nicht auf einem Markt gehandelt werden, im liberalen Leistungsverständnis als Leistung gelten. Im Hartz-System gilt lediglich als unterstützenswert, wer sich dem Vermittlungssystem unterwirft und jede „zumutbare“ Beschäftigung annimmt.

Welche Beschäftigung als „zumutbar“ gelten darf, liegt selbstverständlich nicht in der Bewertungskompetenz der Betroffenen, sondern im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters. Diese Arbeitsagenturen, die durch ihre Sanktionspraktiken über die existenzielle Zukunft ihrer „Kund*innen“ entscheiden, sind denkbar menschenfeindlich organisiert. Die Aufgabe der Betreuer*innen ist nicht etwa, eine zufriedenstellende Beratung der Arbeitssuchenden sicherzustellen, sondern die Erfüllung von Vermittlungsquoten. Mit jeder Vermittlung in Zeitarbeit oder in häufig sinnlose Qualifizierungsangebote ist eine erwerbslose Person aus der Arbeitslosenstatistik entfernt. Die jeweiligen Bundesregierungen können sich mit den gesunkenen Arbeitslosenzahlen rühmen, während die Mehrzahl der Menschen den Preis dafür zahlen muss.

Die Mehrzahl der Menschen? Treffen die Hartz-Gesetze nicht „nur“ Erwerbslose und Menschen, die in prekäre Beschäftigung vermittelt wurden? Weit gefehlt! Eine derart starke Prekarisierung großer Teile der Bevölkerung lässt natürlich auch die Mittelschicht nicht kalt. Denn wer noch nicht im Kreislauf der Prekarisierung gefangen ist, muss jederzeit damit rechnen, erwerbslos zu werden und den sozialen Anschluss zu verlieren.

Diese Überlegung führt uns zum von Hartz-4 angestoßenen Bewusstseinswandel. Während Erwerbslosigkeit früher stärker (wenn auch nicht vollständig) als zufälliger Rückschlag im kapitalistischen Wettbewerb, den das Individuum nur begrenzt beeinflussen kann, begriffen wurde,  befinden wir uns nun im Zeitalter des Neoliberalismus, in dem jeder Mensch Unternehmer*in seiner*ihrer Selbst ist. Die Bedingungslose Anpassung an die Bedürfnisse des Marktes ist das neue Ideal. Wer nicht mitmachen will, soll auch nicht essen dürfen. Wer dem „kranken Mann Europas“ auf die Beine helfen und „Exportweltmeister“ werden will, soll dafür persönliche Opfer erbringen, so die fast einhellige Meinung der politischen Feuilletonisten.

Besonders erschreckt der große Erfolg, den die Koordinierte Entsolidarisierung der Gesellschaft zeitigte. Frei nach dem Motto „nach oben buckeln, nach unten treten“ wandte die deutsche Bevölkerung ihre Wut nicht gegen die Reformen, sondern schloss sich den Hetzkampagnen der Springerpresse und der privaten TV-Sender gegen „Sozialschmarrotzer“ an. Beispielhaft hierfür sind die große Popularität der Berichterstattung über „Deutschlands frechsten Arbeitslosen“ [2] sowie die Entstehung des Fernsehgenres „Assi-TV“ zu nennen. Der „Hartzer“ wurde so nach und nach des Deutschen liebstes Lach- und Hassobjekt. 

Doch nicht nur Erwerbslose sind vom gesellschaftlichen Hassklima betroffen. Da Armut nun stärker als je zuvor als persönliche Verfehlung definiert wird, erhält die Debatte um „Armutszuwanderung“ neuen Aufschwung. Die Logik dahinter: Wer arm ist, ist arm, weil er*sie ein schlechter Mensch ist. Kommen schlechte Menschen zu „uns“, nehmen sie uns unser Geld und machen uns arm. Rassismus und Sozialdarwinismus ergänzen sich hier perfekt. Auch wenn die wirtschaftliche Situation von Menschen nicht der Auslöser von Rassismus ist (dieses Phänomen existiert leider auch in „guten Zeiten“ zur Genüge), so ist Ungleichheit definitiv ein begünstigender Faktor für Agressionsverschiebungen auf benachteiligte Gesellschaftsgruppen. [3]

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die Hartz-Reformen veränderten die Binnenkonjunktur Deutschlands und der EU nachhaltig. Entscheidend sind dabei nicht neu geschaffene Jobs (die sich häufig als Aufteilung sozialversicherungspflichtiger Arbeit in Minijobs und Scheinselbständigkeiten entpuppten [4]), sondern eine gravierende Veränderung in der Verhandlungsposition von Arbeitnehmer*innen. Wie im letzten Kapitel angemerkt, sorgt das Hartz-System bei Erwerbslosen für Zwang, jede Arbeit anzunehmen, und bei Beschäftigten für Verlustängste, die jede Verschlechterung der Arbeitsbedingungen als verkraftbar erscheinen lassen. Des Weiteren wirkt die gesellschaftliche Betrachtung des Menschen als Humankapital, das selbst schuld ist, wenn es sich nicht genügend weiterentwickelt und den Anschluss verpasst, erstickend auf jeden Versuch der kollektiven Organisation von Arbeitnehmer*inneninteressen.

Somit sind sowohl aus soziologischer als auch psychologischer und materieller Sicht die Verhandlungspositionen der Arbeiter*innen massiv gesunken. Die Folgen sind ein rapider Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedschaften [5] und eine Zurückhaltung bezüglich Arbeitskampfmaßnahmen. Streiks sind in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine Seltenheit. Die ohnehin niedrig angesetzten Lohnforderungen werden durch zu niedrige Hartz-4-Regelsätze, die für eine niedrigere Inflation sorgen, nicht gerade positiv beeinflusst. Die Folge dieser Reformbedingten Entwicklungen: im Vergleich zum Rest der EU steigen die Löhne in Deutschland nur sehr langsam. [6]

Die zurückhaltende Lohnentwicklung in Deutschland wirkt sich auf mehreren Kanälen auf die Wettbewerbsdynamik im Euroraum aus. Da die Möglichkeit der Währungsabwertung im Euroraum nicht mehr besteht, sind Firmen in anderen Euroländern gezwungen, ihre Lohnstückkosten weiter zu senken, um im Vergleich zu Deutschland konkurrenzfähig zu bleiben. Die deutsche Sozialpolitik erzeugt einen deflationären Druck in den anderen Eurostaaten, der in einigen Staaten der Peripherie bereits seit mehr als einem Jahr zu fallenden Preisen führt [7]. Die Volkswirtschaftlichen Folgen fallender Preise sind hinlänglich bekannt: Investitionen bleiben aus, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinkt, Firmen müssen die Preise ihrer Produkte weiter senken und entlassen Beschäftigte, was wiederum die Nachfrage- und Preisentwicklung dämpft. Wir befinden uns in einer klassischen Deflationsspirale, die jede Chance auf eine Erholung nach der Finanzkrise zunichtemacht.

„Finanzkrise“ ist ein gutes Stichwort für die finanzpolitischen Auswirkungen der Hartz-Reformen. Da Real- und Finanzsektor untrennbar miteinander verknüpft sind, bleiben Investitionsentscheidungen von sozialpolitischen Entwicklungen nicht unverschont. Sinkende oder nur langsam steigende Reallöhne verursachen aufgrund ihrer Umverteilungswirkung von unten nach oben unweigerlich ein Nachfragedefizit. Wer wenig Geld besitzt, hat schließlich weniger Möglichkeiten, selbiges zu horten oder in unproduktive und häufig destabilisierende Vermögensinvestitionen (zum Beispiel Immobilienspekulationen) anzulegen. Deshalb bildet eine relativ gut situierte Mittel- und Unterschicht das Rückgrat einer kapitalistischen Volkswirtschaft. Ist die stützende Nachfrage in der Breite der Gesellschaft durch Lohnzurückhaltung und mangelhafte Sozialleistungen erloschen, sind produktive Investitionen weniger lukrativ als Spekulationen auf Vermögensobjekte. Direkte öffentliche Investitionen könnten diesen Rückgang höchstens unvollständig ausgleichen. Doch im Zuge der neoliberalen Staatsfeindlichkeit werden auch sie weiter zurückgefahren.

Nicht nur Bilanztechnisch ist ein Exportüberschuss wie in Deutschland immer mit einem Kapitalexport verbunden. Auch sachlogisch ist nicht verwunderlich, dass überschüssige deutsche Ersparnisse vor allem in Staaten flossen, die noch eine funktionierende Binnenkonjunktur hatten. Somit war es auch deutsches Geld, das den Immobiliensektor in Spanien oder den Bankensektor in Irland über jegliches tragbares Maß hinaus aufpumpte und die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa mitverursachte. In Investor*innenkreisen hat sich für dieses Phänomen das geflügelte Wort „dumb german money“ [8] eingebürgert. Wäre die Nachfrage in Deutschland nicht durch Hartz-4 gedrückt worden, hätte die Blasenbildung an den Finanzmärkten wenigstens teilweise gemindert werden können.

Fazit und Ausblick

10 Jahre nach dem Abschluss der Hartz-4 Reformen lässt sich konstatieren: sie haben Deutschland und Europa zu einem schlechteren Ort gemacht. Während die Erwerbslosenzahlen in Deutschland zurückgehen, öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter. Mit seiner aggressiven Lohndumpingspolitik exportiert Deutschland seine Arbeitslosigkeit in andere Euroländer und verschärft die wirtschaftlichen Krisen dort.

Doch statt aus der Erfahrung mit Hartz-4 zu lernen, feiern große Teile der deutschen Politik die Reform als Erfolg. Sowohl die SPD als auch die Grünen haben sich bisher lediglich halbherzig davon distanziert und fordern Nachbesserungen im Detail (etwa ein Sanktionsmoratorium), die den Grundgedanken (und Grundfehler) „fördern und fordern“ nicht antasten. Für progressive Alternativen der sozialen Sicherung wie die eines Bedingungslosen Grundeinkommens fehlt jeglicher gesellschaftlicher Wille. So bleibt 10 Jahre nach Hartz-4 auch zu konstatieren, dass uns dieses entmündigende System wohl noch eine Weile erhalten bleiben wird. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, weiter offensiv für linke Alternativen zum neoliberalen Gesellschaftsbild zu werben. Das „Jubiläum“ von Hartz-4 bietet schließlich eine gute Gelegenheit, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu setzen.



Endnoten (alle Links aufgerufen am 5.1.2015):

[2]: für eine kritische Darstellung siehe http://www.bildblog.de/1952/verarschen-kann-bild-uns-alleine/
[3]: vgl. Richard Wilkinson, Kate Pickett, 2009. Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Tolkemitt Verlag, Berlin, S.194.
[5]: vgl. Mareike Alscher, u. a., 2009: Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Berlin, S. 53.
        [7]: Kerstin Bernoth, Marcel Fratzscher, Philipp König, “Schwache Preisentwicklung und Deflationsgefahr im Euroraum: Grenzen der konventionellen Geldpolitik.” DIW, 2014.