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Freitag, 31. August 2012

Das Problem mit den Außenhandelsüberschüssen

"Deutschland ist Exportweltmeister" ist eine Satz, der in den Medien häufig darauf hinweisen soll, wie vorbildlich die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik funktioniert. Häufig ist dieser Satz mit der Forderung verbunden, dass die europäischen Schuldnerstaaten wie Griechenland, Spanien, Portugal etc. doch bitte endlich ihre "Hausaufgaben" machen sollen und die "notwendigen Reformen" durchführen sollen, die ihre Wirtschaftspolitik an die Deutsche angleicht.
In diesem Post möchte ich unabhängig davon, dass ich Nationalstaaten ablehne, darstellen, warum die einseitige Exportausrichtung der Wirtschaftspolitik auch Volkswirtschaftlich sinnlos ist.

Entstehung von Exportüberschüssen

Überschüsse in der Leistungsbilanz, wie sie in Deutschland seit einigen Jahren bestehen, beschreiben die simple Tatsache, dass im Land gesamtgesellschaftlich mehr exportiert als importiert wird. Ein Leistungsbilanzüberschuss kann also nur entstehen, wenn in anderen Ländern ein Leistungsbilanzdefizit besteht. So ist der große Überschuss der Bundesrepublik vor allem dadurch zu erklären, dass Produkte deutscher Firmen in andere Eurostaaten verkauft wurden.

Voraussetzung für den Verkauf von Waren im Ausland sind niedrige Produktionskosten im Inland. Niedrige Produktionskosten lassen sich prinzipiell auf zwei Arten erreichen. Zum Einen kann der Output eines/r Beschäftigten durch Investitionen in bessere Maschinen absolut erhöht werden. Da die Menge an Kapital pro Beschäftigten durch die Anschaffung einer besseren Maschine steigt, bezeichnet man diesen Prozess als Kapitalakkumulation. Zu dieser technologischen Aufrüstung ist jedes Unternehmen im Kapitalismus gezwungen, da es ansonsten seine "Wettbewerbsfähigkeit" verliert und früher oder später bankrott geht.
Da Kapitalakkumulation in Griechenland genau so schnell wie in Deutschland stattfindet, kann dies nicht der Grund für die geringeren Produktionskosten sein. Diese liegen vor Allem darin begründet, dass die realen Lohnkosten in Deutschland als Folge der Agenda 2010 in den letzten Jahren stagniert sind, während die Gehälter in anderen europäischen Ländern schrittweise nach Oben gingen. Davon profitierte die deutsche Exportindustrie nun gleich zweifach: Zum Einen sind vergleichbare griechische Produkte so teuer geworden, dass Produkte aus Deutschland auch nach Abzug der Transportkosten noch billig genug waren, um einen Wettbewerbsvorteil zu haben, zum Anderen gab es dank der hohen Löhne auch eine scheinbar unendliche Nachfrage nach diesen Produkten. Das deutsche Exportwunder brummte!

Die Folgen des Dumpingwettbewerbs

Deutsche Produkte, die in anderen Staaten wie Griechenland gekauft werden, stellen allerdings prinzipiell einen Kapitalabfluss nach Deutschland dar, da die Nachfrage nach inländischen Produkten im selben Maß zurückgeht, wie die Nachfrage nach Importwaren steigt.


Die Schulden, die die "Krisenländer" durch ihr Leistungsbilanzdefizit machten, waren zunächst vor allem im privaten Sektor, der als Antwort auf die absolut gesunkenen Lohnkosten in Deutschland nur die Möglichkeit der kreditfinanzierten Kapitalakkumulation hatte (Lohndumping war in diesen Ländern bis vor kurzen aufgrund höherer Sozialstandards und Mindestlöhnen nur eingeschränkt möglich). Erst durch die Bankenrettungen, die durch die Liquiditätsausfälle einiger Banken während der Bankenkrise nötig geworden waren, wurden diese Schulden verstaatlicht und haben zu den hohen Schuldenständen der "Krisenländer" geführt. Deutschlands aggressive Exportpolitik ist also eine der Hauptursachen der Schuldenkrise.

Was ist währenddessen im Inland passiert? Es ist unbestreitbar, dass die florierende Exportindustrie viele Arbeitsplätze im Inland geschaffen hat (ca. 1 Million Arbeitsplätze sind zwischen 2000 und 2005 in Exportbranchen entstanden). Diese Arbeitsplätze mussten jedoch, wie bereits oben erwähnt, schlecht bezahlt werden, damit die Produkte ins Ausland abgesetzt werden konnten. Dadurch ist die Binnennachfrage massiv zusammengebrochen, was in den inlandsorientierten Branchen Deutschlands im selben Zeitraum zu ca. 1,3 Millionen Arbeitsplatzverlusten geführt hat (offizielle Daten des statistischen Bundesamtes).

Der kontraktive Lohndruck, der durch die Erhöhung der Arbeitslosenzahlen entstanden ist, reduzierte die Nachfrage der Arbeiter_innen noch weiter. Diese hatten nun noch weniger Geld, um die Exporte deutscher Firmen durch Importe aus den südlichen Eurostaaten abzufedern, was die wirtschaftliche Situation dort tendenziell noch weiter verschlechterte.

Politische Konsequenzen

Die Europolitik Deutschlands versucht nun seit geraumer Zeit, das deutsche Sozialsystem auch in anderen Staaten durchzuboxen - mit durchschlagendem Erfolg. Griechenland hat laut Irischer Nationalbank Kürzungen in Höhe von 40% ihres BIP bereits durchgeführt, was sich wiederum negativ auf die Binnennachfrage ausgewirkt, das Land in eine tiefe Rezession gestürzt und die Staatsschulden sogar erhöht hat. Die Aushöhlung demokratischer Institutionen durch die Troika ist ein weiterer Effekt einer Internationalen Wirtschaftspolitik, in der den Gläubigerländern das alleinige Sagen und den Schuldnerländern die alleinige Schuld zugesprochen wird.


Dabei hätte es ganz anders kommen können. 1944 fand die Konferenz von Bretton-Woods statt, die das globale Finanzsystem für die Zeit seit dem 2. Weltkrieg ordnetet. Dort wurden Institutionen wie die Weltbank und der IWF, die die jetzige Schuldenpolitik zementieren, begründet. In Vergessenheit ist hingegen der Vorschlag von John Maynard Keynes, einem berühmten Volkswirtschaftler, der als Delegierter von Großbritannien an der Konferenz teilnahm. Dieser schlug eine Weltwährung vor, in der alle internationalen Zahlungen abgewickelt werden sollten. Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite, die von dieser "International Clearing Union" registriert wurden, sollten nach einer gewissen Zeit gleichermaßen komplett nichtig werden. Verbunden mit Sanktionen für Überschussländer sollte dieser Mechanismus dafür sorgen, dass auch die Gläubigerländer Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung der Schuldnerländer übernehmen, indem sie eine Art Marshallplan entwerfen.
Des Weiteren waren feste Wechselkurse im Plan enthalten, die bei gleichzeitiger unabhängiger nationaler Zinspolitik den internationalen Kapitalverkehr begrenzen sollten.
(Diese Beschreibung der ICU ist sicherlich sehr verkürzt und aufgrund der Tatsache, dass ich mich erst seit Kurzem damit beschäftige, vermutlich noch mit einigen Fehlern behaftet. Wenn ich mich komplett verrannt haben sollte, teilt es mir bitte mit. Wer sich noch weiter über den Plan von Keynes informieren will findet hier eine gute Zusammenfassung)

Ich halte den Keynesianischen Plan zumindest für besser als das jetzige Weltfinanzsystem, in dem globaler Wettbewerb und damit quasi unbegrenzter kontraktiver Lohndruck herrscht. Als systeminterne Lösung ist aber auch dieser Vorschlag nur ein Bekämpfen der Symptome des kapitalistischen Wachstumsdrucks, der jedoch keineswegs in Frage gestellt wird. Angesichts der Tatsache, dass eine Entkopplung des weltweiten Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum unwahrscheinlich ist und Wirtschaftswachstum selbst bei 100%iger Wiederverwertung von Ressourcen schlussendlich zu einer unendlichen Umlaufsgeschwindigkeit von Waren führen muss, halte ich eine solche Wachstumskritik jedoch für dringend geboten. Darauf möchte ich in diesem Text jedoch nicht genauer eingehen, da eine Analyse der Wachstumsproblematik den Rahmen dieses Textes sprengen würde. Meine Intention war lediglich, zu zeigen, dass die deutsche Exportfixierung selbst unter Zugrundelegung nationalökonomischer Maßstäbe sinnlos ist.

Dienstag, 14. August 2012

Warum Drogen legalisiert werden müssen

Eigentlich wollte ich mich heute mit einem anderen Thema beschäftigen, dann fiel mir jedoch auf, dass ich das Thema Drogenpolitik als eines meiner Hauptthemen in der Beschreibung des Blogs genannt habe, aber noch nichts darüber geschrieben habe.

Des Weiteren steht eine Diskussion darüber an, ob die Forderung nach einem Modellversuch einer staatlich kontrollierten Cannabisabgabe Teil des Wahlprogramms der niedersächsischen Grünen seien soll. Warum beschäftige ich mich in diesem Post also nicht nur mit Cannabis? Aus dem einfachen Grund, dass die Unwirksamkeit des Cannabisverbotes lediglich ein Beispiel für die Unwirksamkeit der Drogenprohibition insgesamt ist. Wenn man die Diskussion lediglich auf Cannabis beschränkt, läuft das häufig auf mehr oder weniger wissenschaftliche Debatten über die Schädlichkeit der Hanfpflanze hinaus. Während es vollkommen korrekt ist, dass Cannabis weitaus weniger schädlich als viele der derzeit legalen Drogen und die Einstiegsdrogenthese längst widerlegt ist, halten solche Argumente an der Annahme fest, dass es richtig und erfolgreich ist, schädliche Substanzen zu verbieten. Diese Grundannahme ist der eigentliche Fehler der Prohibitionist_innen.
Ich werde im Folgenden alle gängigen Argumente gegen die Legalisierung entkräften, die mir spontan in den Sinn kommen. Wenn damit nicht alle Bedenken ausgeräumt sind, einfach einen Kommentar unter den Text setzen und ich befasse mich gesondert damit. Dabei mache ich darauf aufmerksam, dass die Beweislast für den Sinn der Prohibition eigentlich bei dessen Befürworter_innen, die durch diese schwere Eingriffe in grundlegende Menschenrechte ( von Hausdurchsuchungen bis Freiheitsentzug ) begründen, liegen sollte. Diese Erkenntnis ist wichtig, da in der Tat niemand zu 100% wissen kann, wie sich eine Legalisierung genau auswirken würde.

"Niemand braucht Drogen"

Dieses Argument ist vor allem deshalb nicht für eine ernsthafte Diskussion über die Legalität von Rauschmitteln geeignet, weil es sehr ungenau ist. Was bedeutet es, etwas zu brauchen? Wenn "brauchen" im Sinne von "ohne Drogen kann ich, biologisch gesehen, nicht überleben" gemeint ist, so kann man diese Aussage im Allgemeinen bejahen, wobei einige Menschen, unter Anderem Cannabispatient_innen, sehr wohl auf die Einnahme psychoaktiver Substanzen angewiesen sind.
Die Tatsache, dass für die meisten Menschen Drogen nicht überlebenswichtig sind, ist jedoch keine Begründung für ein Verbot. So sind zum Beispiel auch Autos für niemanden überlebenswichtig, potenziell gefährlich und trotzdem nicht verboten.
Es liegt also die Vermutung nah, dass "brauchen" im Sinne von "ich brauche Drogen, um mein individuelles Glück zu erreichen" gemeint ist. Hierzu lässt sich feststellen, dass die große Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft bewusstseinsverändernde Substanzen benutzen. Die Ziele, die sie damit verfolgen, reichen von Stimmungsaufhellung über Bewusstseinserweiterung bis zu Leistungssteigerung und sind so vielfältig wie die unterschiedlichen Drogen und die Menschen, die sie nehmen. Ob eine Bewusstseinsveränderung "nötig" ist, um ein erfülltes Leben zu haben, ist also eher eine philosophische Frage, auf die jede_r eine andere Antwort finden wird. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Menschen eine bestimmte Ansicht in dieser Frage aufzustülpen, oder sie vom Umgang mit Substanzen abzuhalten, solange sie die Freiheiten eines anderen Menschen nicht tangieren.

"Dann würde ja jede_r zum Junkie werden"

Dieses Argument ist etwas schwieriger zu entkräften, da es sich als Annahme tief im Bewusstsein der Gesellschaft verankert hat. Es beinhaltet einige grundsätzliche Fehlannahmen. Zum Einen wird suggeriert, dass jede_r, der/die Drogen konsumiert automatisch süchtig wird und eine Sucht automatisch zu Krankheit und Tod führt. Zum Anderen wird angenommen, dass sich Drogenkonsum durch das Verbot reduzieren lasse.
Für eine Entkräftung der Annahme "Drogenkonsum führt zu Drogensucht" möchte ich auf die Studie des IOM zu Cannabis als Medizin sowie die Dissertation der Wissenschaftler Anthony, Warner und Kessler aus dem Jahre 1994 verweisen. Beide Studien enthalten Statistiken über die Anzahl von Drogengebraucher_innen, die jemals eine Abhängigkeit von der jeweiligen Droge entwickelten. Die illegale Droge mit dem größten Suchtpotenzial ist demnach Heroin mit 23% Abhängigkeitsquote. Die Drogensucht als unumgehbare Folge des Drogenkonsums zu bezeichnen, entbehrt also jeglicher wissenschaftlicher Grundlage.

Auch die Annahme, Drogensucht führe in den meisten Fällen zum Tod, ist falsch. Hierzu empfehle ich die PREMOS-Studie, die Substituierte Drogenabhängige über einen längeren Zeitraum beobachtete und feststellte, dass höchtens 30% der Krankheitsverläufe als negativ zu bewerten sind. Eine große Anzahl der Opiatsüchtigen können ihren Zustand unter den richtigen Rahmenbedingungen auch ohne den Verzicht auf Drogen stabilisieren und sind nicht von Anfang an dem Tode geweiht. Tatsächlich ist die Ansicht, dass es unüberwindbare Kausalzusammenhänge dieser Art gäbe, für das Selbstvertrauen und die Zukunftsaussichten von Abhängigen äußerst schädlich und entwickelt sich somit häufig zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung, da Hilfe oft nur unter der Bedingung der Abstinenz, die häufig - gerade als Einstiegsziel - vollkommen unrealistisch ist, gewährt wird.
Die Ansicht, dass die Prohibition Drogenkonsum präventiv verhindert und somit die Schäden durch Drogenkonsum mindert, ist angesichts steigender Konsument_innenzahlen weltweit schwer nachzuvollziehen, wird jedoch von großen Teilen des gesellschaftlichen Mainstreams weiter vertreten. Sie beruht auf der volkswirtschaftlichen Annahme, dass ein durch Razzien bei Händlern gestiegener Preis für Drogen, zusammen mit einer durch Verfolgungsdruck induzierten Abschreckung der Konsument_innen, die Nachfrage senkt.
In der Realität ist diese abschreckende Wirkung der Prohibition jedoch nur sehr begrenzt zu beobachten. So ist der Drogenkonsum in Portugal, seitdem Drogen dort weitestgehend entkriminalisiert wurden, vor allem unter Jugendlichen, eher gesunken als gestiegen, im Grunde jedoch relativ konstant geblieben. Ich empfehle hierzu die Studie, die das Cato Institute, dass politisch eher der FDP als uns Grünen nahesteht, also keine linke Hippie-Traumfabrik ist, anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Entkriminalisierung erstellt hat.
Auch die Reduzierung des Angebots durch Beschlagnahmung von Drogen und Festnahmen von Dealern ist lediglich temporär, da bei gleichbleibender Nachfrage nach einer Razzia von einem steigenden Preis auszugehen ist, ist es gerade zu diesem Zeitpunkt besonders lukrativ, in das Geschäft einzusteigen. Das dadurch entstehende Angebot überkompensiert die Angebotssenkung durch die Razzia, wodurch die Preise für Drogen - trotz steigender Prohibitionsbudgets - in den letzten Jahrzehnten ständig gesunken ist.

"Damit geben wir uns der Drogenmafia geschlagen"

An diesem Zusammenhang lässt sich auch erklären, warum eine Legalisierung keine Kapitulation vor der Drogenmafia, sondern der schwerst mögliche Schlag gegen ihre Existenzgrundlagen ist.
Durch das fehlen eines regulierten Marktes sind Konsument_innen gezwungen, auf den Schwarzmarkt zu gehen, um sich durch Strafverfolgung künstlich verteuerte Drogen zu kaufen. Ist dann kein Geld zur Finanzierung der eventuellen Sucht mehr da, geht es in die Beschaffungskriminalität oder es wird einfach eine billigere Version der selben Droge verwendet, die im Allgemeinen deutlich schädlicher als ihre Analoge sind. Die Nachfrage nach Crack, Crystal Meth und Heroin ist also vor allem deshalb so hoch, da die weniger schädlichen Alternativen Kokain, Speed und Rauchopium zu teuer oder schlicht nicht mehr angeboten sind. Selbstverständlich würde es immer noch Menschen geben, die sich trotz Legalisierung für die "härteren" Varianten entscheiden würden, entscheidend ist jedoch, dass die Wahl einer sichereren Alternative von der Prohibition elementar beschränkt wird.

Auch die Gewaltbereitschaft, die von vielen Händler_innen an den Tag gelegt wird, ist die direkte Folge eines Marktes, auf dem keine juristischen Auseinandersetzungen mit anderen Marktteilnehmer_innen möglich sind. Wenn ein Streit nicht vor Gericht ausgetragen werden kann, so setzt sich logischerweise das "Recht des Stärkeren" durch. Die Akteure, die heutzutage mit dem Drogenhandel ihr Geld verdienen, würden einen regulierten Drogenmarkt entweder nicht mehr interessant finden, oder ihre Verhaltensweisen anpassen müssen, um auf diesem zu bestehen.

"Es ist unverantwortlich, Drogen so zu verharmlosen"

Niemand, der eine Legalisierung von Drogen anstrebt (zumindest niemand, den ich kenne), möchte damit die Gefahren des Drogenkonsums verharmlosen. Im Gegenteil ist es gerade aufgrund der Gefährlichkeit von Drogen unverantwortlich, Handel und Profit in die Hände von Kriminellen zu legen. Diese unterliegen keiner staatlichen Qualitätskontrolle und können deshalb alles Mögliche zum Strecken ihrer Waren verwenden. Diese Streckmittel, die die Menge der Drogen größer erscheinen lassen, damit sie zu höheren Preisen verkauft werden können, sind häufig gefährlicher als die Drogen selbst.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Heroin. Während reines Diamorphin (der aktive Wirkstoff im Heroin) nach einer Studie des Forschers van Wely aus dem Jahr 1989 keine bleibenden körperlichen Schäden verursacht, ist die körperliche Verwahrlosung von Heroinkonsument_innen gut bekannt. Gerade bei Drogen wie Heroin, bei der die gewünschte Dosis und eine Überdosis sehr nah beieinander liegen, ist ein Unwissen über die Reinheit der Substanz (hierzulande gibt es leider immer noch kein flächendeckendes Drug-Checking) potenziell tödlich.


Des Weiteren stellt die Prohibition eine strukturelle Hürde für den Beginn von Therapien oder dem in Anspruch nehmen von anderen wichtigen Hilfsmaßnahmen (wie zum Beispiel Spritzentausch oder Drogenkonsumräume) dar, da Betroffene ständig fürchten müssen, für ihren Konsum bestraft zu werden. Dadurch schwindet auch das Vertrauen in Polizei und das Justizsystem, die für große, nicht kriminelle Teile der Bevölkerung nicht mehr als Freund sondern als Feind wahrgenommen werden.
Dass auf der anderen Seite auch unsere Ordnungshüter_innen sinnvollere Aufgaben als das Jagen von Kiffern und Junkies haben, liegt auf der Hand.

"Aber denk doch an die Kinder"

Ein weiteres Problem des Schwarzmarktes ist die aggressive und unkontrollierte Vermarktung der Drogen. Ich finde es erstaunlich, wie oft der Jugendschutz als Argument für die Prohibition genannt wird. Es ist unbeschreiblich wichtig, Kinder vor den negativen Folgen von Drogenkonsum, der sich gerade in jungen Jahren besonders auswirkt, zu schützen. Aber meinen Sie allen Ernstes, dass sich ein Dealer darum schert, wem er/sie seine/ihre Drogen verkauft?

Wirklicher Jugendschutz kann nur mit staatlicher Kontrolle, sowie ehrlicher und wirksamer Präventionsarbeit geleistet werden. Dass dieser Ansatz funktioniert, lässt sich am Beispiel Nikotin, dass immer weniger benutzt wird, erkennen. Eine positive Wirkung von Strafverfolgung auf den Drogenkonsum von Jugendlichen wurde hingegen niemals bewiesen. Warum geben wir also ca. 4 Milliarden € im Jahr für etwas aus, das gescheitert ist, während Prävention und Therapie immer noch chronisch unterfinanziert sind?


"Wir sind durch internationale Verträge gebunden"

In der Tat ist Deutschland durch internationale Konventionen an die Prohibition gebunden. Innerhalb dieser Richtlinien ist jedoch eine teilweise Entkriminalisierung der Konsument_innen und die Einführung von schadensmindernden Maßnahmen möglich. Maßnahmen wie Drug-Checking, verbesserte Substitution oder Herabstufung von Drogenbesitz als Ordnungswidrigkeit sind also auch ohne den Austritt aus der "Single Convention on narcotic Drugs" möglich und sollten schnellstmöglich umgesetzt werden.

Auch ein Austritt aus den internationalen Drogenhandelsabkommen dürfte nach dem Austritt Boliviens, das die Verträge vor einigen Monaten verließ, um traditionellen Kokaanbau zu ermöglichen, seinen Schrecken verloren haben. Der internationale Widerstand gegen den Krieg gegen Drogen wächst von Tag zu Tag. Uruguay hat als erstes Land der Welt geplant, Cannabis zu legalisieren und die Forderung nach der Legalisierung "härterer" Drogen wird inzwischen von immer mehr hochrangigen Politiker_innen ausgesprochen. Auch international anerkannte Persönlichkeiten wie Kofi Annan, der am Bericht der Global Commission on Drug policy, welcher ein Umdenken in der Drogenpolitik fordert, mitarbeitete, sind Gegner des "Drogenkriegs" geworden.
Es gibt also keinen besseren Zeitpunkt, um einen internationalen Paradigmenwechsel einzuleiten.

"Dann wählt uns ja keine_r mehr"

Ich möchte jetzt gar nicht damit argumentieren, dass zumindest die Kriminalisierung von Konsument_innen schon längst keine gesellschaftliche Mehrheit mehr findet, oder dass viele Wähler_innen aus dem Grün-alternativen Spektrum selbst Drogen konsumieren.

Ich möchte mich auf eine solche Diskussion schlichtweg nicht einlassen. Was wäre passiert, wenn wir Grünen vor 20 Jahren der öffentlichen Meinung über Atomkraft gefolgt wären? Die Glaubwürdigkeit unserer Partei hat sich schon immer daran festgemacht, dass wir auch unbeliebte Wahrheiten ausgesprochen haben und am Ende Recht behalten haben. Wenn wir ständig nur von Wahl zu Wahl gucken und unsere Inhalte dafür opfern, bestimmte Wähler_innenmilieus nicht zu verschrecken, werden wir auf absehbare Zeit nicht mehr von den "Volksparteien", die sowohl Wähler_innen als auch Mitglieder verlieren, zu unterscheiden sein. Realpolitik ist wichtig - das möchte ich hier gar nicht bestreiten - aber wenn sie zum Primat der Politik auserkoren wird und niemand mehr über den Tellerrand hinaus schaut, können gesellschaftliche Veränderungen nicht mehr stattfinden.

Fazit

Jetzt habe ich also ausführlich dargestellt, warum eine Legalisierung von Drogen der einzig vernünftige Umgang mit dieser Problematik ist. Wie aber soll eine Legalisierung konkret aussehen?
Da diese Fragestellung den Rahmen dieses Posts (und meiner Motivation) sprengen würde, werde ich mich diesem Thema in einem späteren Post widmen. Für alle, die diesen Post nicht abwarten wollen und mehr über mögliche Regulierungsmodelle erfahren möchten, verweise ich zum Einen auf das Modell des Drogenfachgeschäftes und zum Anderen auf die Publikation "Nach dem Kriege gegen die Drogen - Modelle für einen regulierten Umgang" von akzept e.V. .

Montag, 13. August 2012

Europäischer Nationalismus

Die Grüne Bundestagsfraktion hat heute auf Facebook einen inoffiziellen Medaillenspiegel zu den olympischen Spielen hochgeladen, der die Europäische Union als "Gewinner" zeigt. Die dazu gehörige Bildunterschirft "In Zeiten, in denen alle immer nur an Krise denken, wenn sie Europa hören, ein kleiner Blick auf unser europäisches olympisches Ergebnis:" hat mich dazu veranlasst, einen Kommentar zu diesem Post zu schreiben. Da dieser in der Schnellebigkeit der Grünen Facebookseite sicherlich untergehen wird, poste ich ihn hier noch einmal in voller Länge.

Ich halte eine solche Statistik, ähnlich wie den offiziellen Medaillenspiegel, für gefährlich. Während ich als Grüner natürlich für eine stärkere EU bin, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Europäische Integration nicht in Europäischen Nationalismus umschlagen sollte.
Letztendlich sind Medaillen natürlich, obwohl eine Sport-fördernde Gemeinschaft hilfreich ist, immer Einzelleistungen. Der Medaillenspiegel suggeriert, dass man als nicht Beteiligte_r trotzdem Stolz für die Leistungen seiner Landsleute empfinden sollte. Dadurch wird das schädliche Konstrukt einer Nationalgemeinschaft, die sich in irgendeiner Form von anderen Nationen unterscheidet, zementiert. Die Solidaritätsvorbehalte, die durch eine solche Konstruktion des „Eigenen“ im Gegensatz zum „Anderen“ entstehen, lassen sich momentan in der Haltung der Öffentlichkeit im Bezug auf „die faulen Griechen“ beobachten. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich sinnvoll, die „vereinigten Staaten von Europa“ anzustreben, da dadurch einige nationale Grenzen zumindest offiziell de-legitimiert werden. Dies kann jedoch nur ein Schritt zur Überwindung des Nationalstaat-Konzeptes und dem damit verbundenen Erreichen grundsätzlicher anti-nationaler Solidarität zwischen allen Menschen auf dieser Welt, die in einer Welt mit immer knapper werdenden Ressourcen überlebenswichtig ist, sein.
Dieser Kommentar soll der Bundestagsfraktion keineswegs unterstellen, dass sie mit diesem alternativen Medaillenspiegel nationalistische Absichten verfolgt. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass Patriotismus und Nationalismus zwei Seiten der selben Medaille sind (weswegen diese Konzepte in der Psychologie oft nicht unterschieden werden (können)) und wir Grünen bei unserem Anliegen der Schaffung eines föderalen europäischen Staates aufkommendem europäischen Nationalismus so früh wie möglich begegnen sollten.

Sonntag, 5. August 2012

Schule im Aufbruch-Für ein neues, humanes Schulsystem

Ich habe heute den Aufruf der Initiative "Schule im Aufbruch" zugesandt bekommen. Da diese eine demokratische Debatte über grundlegende Leitlinien unseres Schulsystems fordert, halte ich dies für den besten Zeitpunkt, ein paar grundlegende Probleme unseres Schulsystems herauszuarbeiten und mögliche Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ich möchte diesen Post also dazu nutzen, um meinen Teil zur Debatte beizutragen, was natürlich auch heißt, dass ich über Rückmeldungen meiner Leser_innen wie immer sehr erfreut wäre.

Einseitige Berufsorientierung

Unser heutiges Schulsystem setzt in großem Umfang auf Berufsorientierung. In jeder Debatte, die zum Thema Schulpolitik geführt wird, fällt mindestens einmal der Satz "Wie können wir unsere Schüler am besten auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes vorzubereiten?". Die Tatsache, dass diese Frage von großen Teilen der politischen Öffentlichkeit zum Hauptproblem der Bildungsdebatte erhoben wurde, ist bezeichnend für den Zustand unseres demokratischen - oder kann man es inzwischen schon plutokratisch nennen ? - Systems.

Nicht etwa freies und kritisches Denken soll gefördert werden, sondern die perfekte "Arbeitskraft" soll erstellt werden, um die Bedürfnisse des "Marktes" zu befriedigen.

Ob die derzeitige Politik geeignet ist, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, sei angesichts des "Fachkräftemangels" dahingestellt. Es reicht für meine Analyse zunächst aus, zu erkennen, dass diese einseitige Berufsorientierung ein Primat darstellt, das sich durch das komplette Bildungssystem zieht. Ich denke, dass sich die meisten Verfehlungen des Schulsystems vor diesem Hintergrund verstehen lassen.

Selektion und Leistungsbewertung

Eine der großen Leistungen, die unser Schulsystem für den "Arbeitsmarkt" erbringt, ist die frühzeitige Selektion von Schüler_innen in Gymnasium, Real- und Hauptschule. Die Wurzeln dieses Schulsystems lassen sich in eine Zeit zurückverfolgen, als die deutsche Gesellschaft starr in Adel/Klerus, Bourgeoisie und Plebs gegliedert war. Einzelne Gesellschaftsschichten wollten sicherstellen, dass ihr Nachwuchs zum Einen nicht von der Dummheit der "niederen" Schichten verdorben wird, und ihm zum Anderen eine priviligierte Position für gesellschaftlichen Erfolg zu verschaffen.


Dass die soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems auch heute noch zu wünschen übrig lässt, sollte vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich sein. Laut einer aktuellen Studie des Allensbach-Institutes denken 90% der Lehrer_innen, dass die soziale Schicht der Schüler_innen einen maßgeblichen Einfluss auf die erreichten Noten hat. Dass sie mit dieser Einschätzung Recht haben, erscheint unausweichlich, wenn man einen tieferen Blick in das Notensystem wirft, wie er mir zum ersten Mal durch das Buch "Was wir unseren Kindern in der Schule antun - und wie wir das ändern können" von Sabine Czerny, welches sehr empfehlenswert ist, gewährt wurde.

Zunächst sollte man sich vor Augen führen, dass die Note "4" auch als "ausreichend" bezeichnet wird. Diese Note wird vergeben, wenn ein_e Schüler_in alle im Unterricht beigebrachten Inhalte versteht und reproduzieren kann. Bessere Noten können nur erreicht werden, wenn Anforderungen "im besonderen Maße" erfüllt werden, der/die Schüler_in also Leistungen erbringt, die nicht Teil des Unterrichtes sind. Diese Kenntnisse müssen also zwangsläufig außerhalb der Schulzeit erworben werden. Dass dieses Kindern von reichen Eltern leichter gelingt als Kindern aus "bildungsfernen Schichten" sollte selbst für den/die leidenschaftlichste_n Apologet_in des Systems schwer zu bestreiten sein. Der Bildungserfolg der Eltern wird also von Anfang an in der Schule reproduziert.

Eine weitere Perversität der Notengebung besteht darin, dass Lehrer_innen dazu angehalten werden, Klausuren zu entwerfen, die weder "zu einfach" noch "zu schwer" sind. Die Schwere einer Klausur wird dabei von Vorgesetzten anhand des Notenspiegels bewertet. Sind also in einer Klasse zu viele "einser" ist dies nicht etwa ein Beleg für die pädagogische Kompetenz der Lehrkraft, sondern wird als dessen Fehler bei der Klausurkonzeption betrachtet. Der Notenspiegel soll innerhalb einer Klasse der Annahme einer Normalverteilung der Intelligenz folgen. Dass eine solche Normalverteilung, selbst wenn sie empirisch in der Bevölkerung vorhanden sein sollte, nicht innerhalb einer kleinen, zufällig ausgewählten Klasse, reproduziert wird, sollte jedem Menschen mit einem Grundverständnis von Mathematik sofort einleuchten. Da die Annahme der Normalverteilung jedoch reproduziert werden soll, müssen Prüfungen so gestaltet werden, dass sie, zum Beispiel durch missverständliche Fragestellungen, Fehler produzieren.

Die psychologischen Schäden, die durch eine Leistungsbewertung im frühen Kindesalter verursacht werden, sind gravierend. Menschen können erst in späten Stadien ihrer Entwicklung zwischen der Bewertung ihrer Leistung und einer Bewertung ihrer Person differenzieren. Schlechte Noten, die, wie oben beschrieben, verteilt werden MÜSSEN, werden also als Abwertung der eigenen Person und als Verweigerung von Liebe und Anerkennung durch Lehrer_innen wahrgenommen. Durch diesen enormen psychischen Stress entstehen schnell Selbstbilder, die den Schüler_innen suggerieren, dass sie "eh nur ein 4-er Kandidat" seien. Durch die Tatsache, dass stärkere Schüler_innen dem selben Leistungsdruck ausgesetzt sind, wird der Aufstieg in höhere Notenregionen, die ja per Definition nur im Vergleich zu den Anderen erreicht werden können, erschwert.
Schüler_innen verzweifeln so schnell an der Schule. Sie wird zum Ort der Pein und Schande. Ihre Selbstbilder werden grundsätzlich negativ geprägt, wodurch Leistungsbereitschaft und -fähigkeit signifikant sinken. Minimale Unterschiede in der zeitlichen Entwicklung, die vor allem durch das Elternhaus bedingt sind, werden durch diese psychologischen Effekte immer mehr verstärkt, sodass schlechte Noten über die Zeit zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Dass dadurch sowohl eine große Menge intellektuellem, als auch menschlichem Potenzials verschenkt wird, sollte einleuchtend sein; vor allem, wenn man bedenkt, dass alle Menschen mit Milliarden von Synapsen in ihrem Gehirn das Leben beginnen, die nur darauf warten, angemessen stimuliert zu werden. Intelligenz ist lediglich der Grad der Verknüpfung von Synapsen, der durch diese Stimulation erreicht wird.
Es gibt also keine "dummen" Kinder, sondern lediglich Kinder, die dumm gemacht werden. Auch diese Verdummung eines großen Teiles der Bevölkerung ist natürlich im Interesse des "Marktes". Dieser möchte keine kritisch denkenden Menschen, sondern Konsument_innen, die sich nicht beschweren, für 8€ die Stunde zu schuften, um sich danach mit den ach so tollen Errungenschaften des Kapitalismus wie "Bubble Tea" und "Shopping-Trips" die Sinnlosigkeit ihres wirtschaftlichen Handelns zu kompensieren. Da Kapitalismuskritik wohl noch einen großen Teil meiner weiteren Schreibarbeit in diesem Blog ausmachen wird, belasse ich es für diesen Post dabei, um nicht in endloses, zielloses Schwafeln auszuarten.
Um diesen Abschnitt zu den psychischen Folgen zu vervollständigen, möchte ich noch klarstellen, dass die Notengebung nicht nur denjenigen schadet, die am unteren Ende der Skala stehen. Auch das Selbstbild der "guten" Schüler_innen ist hochgradig prekär, da jeder Klassen- oder Lehrerwechsel die Bewertungsgrundlage komplett verändern kann. Die psychologischen Folgen eines solchen plötzlichen Leistungsabfalls habe ich selber erlebt, als ich vor ein paar Jahren zu den 15% der 14- bis 16-jährigen gehörte, die akut selbstmordgefährdet waren (Quelle: SEYLE-Studie).
Des Weiteren ist der Konkurrenzgedanke, der durch solch ein Notensystem geschürt wird, sicherlich nicht förderlich für eine Spezies, die sich evolutionär aufgrund ihres ausgeprägten Sozialverhaltens und Kooperation durchgesetzt hat.

"Aber man kann doch nicht einfach die Notengebung abschaffen, dann würde doch niemand mehr lernen wollen." ist ein Einwand, den ich oft zu hören bekomme. Für ältere Menschen, die durch das Schulsystem bereits so geprägt wurden, dass lediglich der Leistungsnachweis zu einer bestimmten Zeit wichtig ist, während die darauf folgende Aufarbeitung eigener Schwächen nicht belohnt, sondern durch Zeitverlust für die Erarbeitung anderer Themen, sogar bestraft wird, mag das stimmen. Es gibt keinerlei Motivation, etwas nach der Klausur verstehen zu wollen, da die Bewertung nicht verändert werden kann.
Im Grunde ist jeder Mensch, der von der Gesellschaft noch nicht komplett vergrault wurde, bereit zu lernen. Der berühmte humanistische Psychologe Maslow hat dieses Bedürfnis sogar zu einem Bestandteil seiner berühmten "Bedürfnis-Pyramide" gemacht und damit den Wert des Lernens als elementares menschliches Bedürfnis herausgestellt. Wer an dieser inhärenten Motivation zum Lernen zweifelt, sollte sich die Zeit nehmen, Kinder, die noch nicht vom Leistungsdruck geknebelt sind, zu beobachten. Sie entdecken ihre Welt spielerisch und stellen eine Fülle von Fragen an Erwachsene. Sie wollen ihre Welt verstehen, ohne dafür unter irgendeinen Druck gesetzt zu werden. Ein großes Problem an unserem Bildungssystem ist, dass es so gut wie keine positiven Anreize zum selbstständigen, entdeckerischen Lernen gibt, sondern die Schüler_innen in eine ständige Abwehrhaltung gegenüber Bestrafung durch schlechte Noten setzt.
Das Hetzen von einer Prüfung zur anderen führt dabei zum sogenannten "Bulemie-Lernen", bei dem das nötige Faktenwissen für die nächste Klausur in das Gedächtnis geradezu eingeprügelt wird, um nach der Klausur als nutzloser Ballast wieder vergessen zu werden.
Eine Schule ohne die ständige Notwendigkeit des Beherrschens eines vorgegebenen Faktenwissens würde viel mehr Platz für eigenständiges Lernen, das jedem Menschen die Chance gibt, die eigenen Fähigkeiten und Interessen zu verfolgen, geben. Durch die Vorstellung der Ergebnisse dieses eigenständigen Lernprozesses in der Gruppe profitieren alle Schüler_innen von einer großen Fülle von neuen Ideen, während der/die Vortragende_r sein Wissen durch Weitergabe festigt und gleichzeitig Kommunikationstraining auf hohem Niveau betreibt.
Da der ständige Konkurrenzdruck in einer Schule ohne Noten wegfällt, wird Kooperation und Sozialverhalten gefördert und Egoismus missbilligt.
Eine solche "Schule ohne Noten" würde aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass keine Prüfungen mehr stattfinden. Es bleibt in einer solchen Organisationsform immer noch die Möglichkeit, Lernzielkontrollen schreiben zu lassen. Eine personalisierte Rückmeldung über spezifische Fehlerquellen erweist sich dabei als viel effektiver als eine Bewertung der Leistung als Note mit allen ihren negativen Folgen. Lehrer_innen sollen die Chance bekommen, das zu tun, wofür sie bezahlt werden- den Schüler_innen möglichst viel Wissen zu vermitteln- anstatt sich mit ständiger Selektion beschäftigen zu müssen.

Falsche Lehrmethoden

Der heute immer noch vorherrschende Frontalunterricht ist ineffektiv und für die Schüler_innen wenig motivierend. Das Einprasseln von vielen abstrakten Fakten auf die Schüler_innen wird den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Psychologie nicht gerecht.


Wie ich bereits zuvor beschrieben habe, besitzt jeder Mensch Milliarden von Nervenzellen, die Erfahrungen speichern und verknüpfen. Die Reichhaltigkeit sinnlicher Erfahrungen ist im Lernprozess vor allem für jüngere Kinder von großer Bedeutung, da abstrakte Konzepte immer einer erfahrenen sinnlichen Grundlage bedürfen. Die Abbildung einer Blume in einem Biologiebuch kann die sinnliche Erfahrung der realen Blume, die nicht nur das Sehen, sondern auch das Fühlen und Riechen betrifft, nicht ersetzen.

Obwohl ältere Kinder immer mehr in der Lage sind, abstrakte Konzepte zu entwickeln, ist die Grundlage dafür immer im selbstständigen Entdecken der eigenen Umgebung gelegt. Umso wichtiger ist es, in allen Entwicklungsstufen eigenständiges Arbeiten zu fördern. Das heißt jedoch nicht, dass Kinder einfach allein gelassen werden, sondern benötigt eine individuelle Förderung, die Kinder bei dem selbstständigen Erlangen von Kompetenzen unterstützend unter die Arme greift, anstatt Ergebnisse einfach zu Präsentieren. Dafür braucht es einen besseren Personalschlüssel sowie mehr Investitionen in und Zeit für Experimente, die Theorie und Praxis verknüpfen.

Falsche Inhalte

Heutiger Unterricht setzt zum großen Teil auf die Vermittlung von schnödem Faktenwissen. Diese Fokussierung wird einer Zeit, in der alle Informationen auf Knopfdruck verfügbar sind, nicht mehr gerecht. Viel wichtiger wäre es, sich in der Schule darauf zu konzentrieren, das Lernen zu lernen- also Methoden zur Aneignung, Kategorisierung, und kritischen Bewertung von Informationen. Ich habe zum Beispiel erst im 12. Schuljahr gelernt, wie man mit wissenschaftlicher Literatur umgeht. In einem Schulsystem, in dem viele Schüler_innen schon nach 10 Jahren ins Berufsleben entlassen werden, stellt das ein Armutszeugnis dar.

Des Weiteren sollte schon früher eine stärkere Spezialisierung nach eigenen Wünschen möglich sein. Das könnte man so gestalten, dass statt einem Klassen- ein Modulsystem verwendet wird, in dem jede_r eine Grundausbildung auf jedem Fachgebiet bekommt und sich danach selbstständig entscheiden kann, ob er/sie sich auf ein oder mehrere bestimmte Gebiete spezialisieren möchte, oder weiterhin generalisiert weiter lernt. Das hätte den Vorteil, dass besondere persönliche Stärken schon früh gefördert würden und das Frustpotenzial bei ungeliebten Fächern sinkt, da diese nach dem Erwerben eines gewissen Grundverständnisses einfach abgewählt werden können. Dabei halte ich es für wichtig, die Wahl des Lebensweges so lange wie möglich offen zu halten, indem die Belegung eines Faches von anderen ausgewählten Fächern unabhängig ist. In der Praxis würde ein solches Lernen ähnlich wie das auf Universitäten bereits verwendete Modulsystem, in dem einzelne Module auch aufeinander aufbauen können, aussehen.

Weitere Aspekte

Ich habe mich aus Platzgründen dafür entschieden in diesem Text nicht auf Forderungen wie die inklusive Beschulung (die übrigens durch die Abschaffung der Notengebung erst ermöglicht wird) oder die stärkere Förderung von demokratischer Partizipation von Schüler_innen sowie von Gesamt- und Ganztagsschulen einzugehen, da diese in meiner Partei bereits mehr als ausführlich bearbeitet wurden und es gerade in meinem Landesverband (Niedersachsen) genügend Expert_innen für diese Themen gibt, die sich dazu sicher qualifizierter als ich äußern können. Deswegen habe ich mich in diesem Text vor allem auf kontroverse Themen, die in der Debatte um eine bessere Schullandschaft häufig vergessen werden, konzentriert. Nichtsdestoweniger sind natürlich auch die oben genannten Forderungen unbedingt zu unterstützen, um mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen.


Ich hoffe, dass euch mein spontaner Beitrag zu der Debatte gefallen und intellektuell befruchtet hat, und freue mich auf den weiteren Fortgang dieser Debatte.